in den allgemeinen Theorien sind dergleichen Fehler häu- fig genug vorgekommen, davon die metaphysischen und moralischen eine Menge von Beyspielen enthalten; nur die Geometrie und Arithmetik hat sich davon frey ge- halten.
Wenn die Sinne sagen: der Mond sey so groß wie die Sonne, so lehret die Theorie ein anders, die Theo- rie nemlich mit andern Beobachtungen verbunden. Da ist ein Widerspruch des Gemeinverstandes und der rai- sonnirenden Vernunft, und es ist der erstere, welcher un- recht hat.
Aber nicht nur die raisonnirende Vernunft und der Gemeinverstand kommen sich so im Wege, son- dern jede wird oft mit sich selbst uneins, wie die verschie- denen Systeme der spekulativischen Philosophie von der Vernunft beweisen. Auf gleiche Weise geräth der Ge- meinverstand oft in ähnliche Verwirrungen. Das Ur- theil nach den Gesichtsideen ist dem Urtheil des Ge- fühls entgegen; wir wissen es recht gut, wie oft uns der sichtliche Schein trügen würde, wenn wir ihn nicht kennen gelernet hätten.
Wie machen wir es in solchen Fällen, oder vielmehr, wie haben wir es gemacht, da wo wir aus diesen Ver- wirrungen uns glücklich heraus geholfen haben? Wie haben wir in den Kenntnissen des gemeinen Verstandes, so zu sagen, das Gesicht und das Gefühl mit einander vertragen? und wie sind wir überzeugt worden, daß wir richtig entschieden haben? Wie hat der Astronom den sinnlichen Schein seiner Vernunft unterworfen, und ist zu der Gewißheit gelanget, daß er sich in seinen Schlüs- sen nicht irre, die Erde drehe sich gegen die Sonne, wie's ihm auch sein Gesicht vorstellen möge?
Und wie soll man in allen übrigen Fällen es machen, in denen der scheinbare Streit zwischen Gemeinverstand und Vernunft noch nicht so völlig gehoben ist?
Da
I.Band. O o
der hoͤhern Kenntniſſe ⁊c.
in den allgemeinen Theorien ſind dergleichen Fehler haͤu- fig genug vorgekommen, davon die metaphyſiſchen und moraliſchen eine Menge von Beyſpielen enthalten; nur die Geometrie und Arithmetik hat ſich davon frey ge- halten.
Wenn die Sinne ſagen: der Mond ſey ſo groß wie die Sonne, ſo lehret die Theorie ein anders, die Theo- rie nemlich mit andern Beobachtungen verbunden. Da iſt ein Widerſpruch des Gemeinverſtandes und der rai- ſonnirenden Vernunft, und es iſt der erſtere, welcher un- recht hat.
Aber nicht nur die raiſonnirende Vernunft und der Gemeinverſtand kommen ſich ſo im Wege, ſon- dern jede wird oft mit ſich ſelbſt uneins, wie die verſchie- denen Syſteme der ſpekulativiſchen Philoſophie von der Vernunft beweiſen. Auf gleiche Weiſe geraͤth der Ge- meinverſtand oft in aͤhnliche Verwirrungen. Das Ur- theil nach den Geſichtsideen iſt dem Urtheil des Ge- fuͤhls entgegen; wir wiſſen es recht gut, wie oft uns der ſichtliche Schein truͤgen wuͤrde, wenn wir ihn nicht kennen gelernet haͤtten.
Wie machen wir es in ſolchen Faͤllen, oder vielmehr, wie haben wir es gemacht, da wo wir aus dieſen Ver- wirrungen uns gluͤcklich heraus geholfen haben? Wie haben wir in den Kenntniſſen des gemeinen Verſtandes, ſo zu ſagen, das Geſicht und das Gefuͤhl mit einander vertragen? und wie ſind wir uͤberzeugt worden, daß wir richtig entſchieden haben? Wie hat der Aſtronom den ſinnlichen Schein ſeiner Vernunft unterworfen, und iſt zu der Gewißheit gelanget, daß er ſich in ſeinen Schluͤſ- ſen nicht irre, die Erde drehe ſich gegen die Sonne, wie’s ihm auch ſein Geſicht vorſtellen moͤge?
Und wie ſoll man in allen uͤbrigen Faͤllen es machen, in denen der ſcheinbare Streit zwiſchen Gemeinverſtand und Vernunft noch nicht ſo voͤllig gehoben iſt?
Da
I.Band. O o
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der hoͤhern Kenntniſſe ⁊c.
in den allgemeinen Theorien ſind dergleichen Fehler haͤu-
fig genug vorgekommen, davon die metaphyſiſchen und
moraliſchen eine Menge von Beyſpielen enthalten; nur
die Geometrie und Arithmetik hat ſich davon frey ge-
halten.
Wenn die Sinne ſagen: der Mond ſey ſo groß wie
die Sonne, ſo lehret die Theorie ein anders, die Theo-
rie nemlich mit andern Beobachtungen verbunden. Da
iſt ein Widerſpruch des Gemeinverſtandes und der rai-
ſonnirenden Vernunft, und es iſt der erſtere, welcher un-
recht hat.
Aber nicht nur die raiſonnirende Vernunft und
der Gemeinverſtand kommen ſich ſo im Wege, ſon-
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theil nach den Geſichtsideen iſt dem Urtheil des Ge-
fuͤhls entgegen; wir wiſſen es recht gut, wie oft uns
der ſichtliche Schein truͤgen wuͤrde, wenn wir ihn nicht
kennen gelernet haͤtten.
Wie machen wir es in ſolchen Faͤllen, oder vielmehr,
wie haben wir es gemacht, da wo wir aus dieſen Ver-
wirrungen uns gluͤcklich heraus geholfen haben? Wie
haben wir in den Kenntniſſen des gemeinen Verſtandes,
ſo zu ſagen, das Geſicht und das Gefuͤhl mit einander
vertragen? und wie ſind wir uͤberzeugt worden, daß wir
richtig entſchieden haben? Wie hat der Aſtronom den
ſinnlichen Schein ſeiner Vernunft unterworfen, und iſt
zu der Gewißheit gelanget, daß er ſich in ſeinen Schluͤſ-
ſen nicht irre, die Erde drehe ſich gegen die Sonne, wie’s
ihm auch ſein Geſicht vorſtellen moͤge?
Und wie ſoll man in allen uͤbrigen Faͤllen es machen,
in denen der ſcheinbare Streit zwiſchen Gemeinverſtand
und Vernunft noch nicht ſo voͤllig gehoben iſt?
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 577. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/637>, abgerufen am 22.12.2024.
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