Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.IX. Versuch. Ueber das Grundprincip oder in dem Vermögen, womit wir Modifikationen auf-nehmen und zurückwirken, so wie das Vermögen ge- wahrzunehmen es auch ist; aber jenes ist die Selbstthä- tigkeit der Grundkraft von einer andern Seite betrachtet. Das Wachs nimmt einen Abdruck an von einem Körper, der auf solches herunterfällt, wirket zurück, und behält die Figur, ohne doch, wie die elastische Feder, diesen Körper, wenn er zur Ruhe gebracht ist, von neuen von sich abzustoßen. Laß das Wachs nun selbstthätig seyn, indem es die Figur annimmt, laß es sich solche, selbst, so zu sagen, geben, oder zum Theil doch mit wirken, wenn es sie empfängt, so mag es sie auch, wenn sie ein- mal sich etwas verlohren hat, aus sich selbst wieder er- wecken können. Dieß hieße so viel, als: das Wachs würde Reproduktionskraft besitzen. Aber diese Wirkung ist nicht jene neue Aktion, womit die Feder den Körper, der sie modificirt, zurück treibet. Diese beiden Wir- kungen sind doch den Begriffen nach unterschieden, und also auch die Vermögen dazu; wenn es auch unausge- macht ist, ob und in wie ferne die eine von der andern getrennet seyn kann. Die vorstellende Kraft hat nur mit passiven Modifikationen zu thun, welche schon auf- genommen sind, und mit Aktionen, die schon einmal vorgenommen worden sind, und Spuren hinterlassen haben; dagegen ist das Vermögen, Verhältnisse zu denken, ein Vermögen, eine neue Modifikation her- vorzubringen, und zwar da, wo der Uebergang von ei- ner Vorstellung zu andern gefühlet wird. Nach den Begriffen zu urtheilen, auf welche die bisherige Auflö- sung geführet hat, lassen sich Wesen gedenken, die füh- len, Bilder haben, Bilder wieder erwecken und auf einander beziehen können, ohne doch gewahrnehmen und denken zu können; ob es gleich unwahrscheinlich ist, daß Gefühl und Vorstellungskraft in einem merklichen Grade vorhanden seyn könne, ohne daß aufs mindeste ein schwacher Grad
IX. Verſuch. Ueber das Grundprincip oder in dem Vermoͤgen, womit wir Modifikationen auf-nehmen und zuruͤckwirken, ſo wie das Vermoͤgen ge- wahrzunehmen es auch iſt; aber jenes iſt die Selbſtthaͤ- tigkeit der Grundkraft von einer andern Seite betrachtet. Das Wachs nimmt einen Abdruck an von einem Koͤrper, der auf ſolches herunterfaͤllt, wirket zuruͤck, und behaͤlt die Figur, ohne doch, wie die elaſtiſche Feder, dieſen Koͤrper, wenn er zur Ruhe gebracht iſt, von neuen von ſich abzuſtoßen. Laß das Wachs nun ſelbſtthaͤtig ſeyn, indem es die Figur annimmt, laß es ſich ſolche, ſelbſt, ſo zu ſagen, geben, oder zum Theil doch mit wirken, wenn es ſie empfaͤngt, ſo mag es ſie auch, wenn ſie ein- mal ſich etwas verlohren hat, aus ſich ſelbſt wieder er- wecken koͤnnen. Dieß hieße ſo viel, als: das Wachs wuͤrde Reproduktionskraft beſitzen. Aber dieſe Wirkung iſt nicht jene neue Aktion, womit die Feder den Koͤrper, der ſie modificirt, zuruͤck treibet. Dieſe beiden Wir- kungen ſind doch den Begriffen nach unterſchieden, und alſo auch die Vermoͤgen dazu; wenn es auch unausge- macht iſt, ob und in wie ferne die eine von der andern getrennet ſeyn kann. Die vorſtellende Kraft hat nur mit paſſiven Modifikationen zu thun, welche ſchon auf- genommen ſind, und mit Aktionen, die ſchon einmal vorgenommen worden ſind, und Spuren hinterlaſſen haben; dagegen iſt das Vermoͤgen, Verhaͤltniſſe zu denken, ein Vermoͤgen, eine neue Modifikation her- vorzubringen, und zwar da, wo der Uebergang von ei- ner Vorſtellung zu andern gefuͤhlet wird. Nach den Begriffen zu urtheilen, auf welche die bisherige Aufloͤ- ſung gefuͤhret hat, laſſen ſich Weſen gedenken, die fuͤh- len, Bilder haben, Bilder wieder erwecken und auf einander beziehen koͤnnen, ohne doch gewahrnehmen und denken zu koͤnnen; ob es gleich unwahrſcheinlich iſt, daß Gefuͤhl und Vorſtellungskraft in einem merklichen Grade vorhanden ſeyn koͤnne, ohne daß aufs mindeſte ein ſchwacher Grad
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0674" n="614"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">IX.</hi> Verſuch. Ueber das Grundprincip</hi></fw><lb/> oder in dem Vermoͤgen, womit wir Modifikationen auf-<lb/> nehmen und zuruͤckwirken, ſo wie das Vermoͤgen ge-<lb/> wahrzunehmen es auch iſt; aber jenes iſt die Selbſtthaͤ-<lb/> tigkeit der Grundkraft von einer andern Seite betrachtet.<lb/> Das Wachs nimmt einen Abdruck an von einem Koͤrper,<lb/> der auf ſolches herunterfaͤllt, wirket zuruͤck, und behaͤlt<lb/> die Figur, ohne doch, wie die elaſtiſche Feder, dieſen<lb/> Koͤrper, wenn er zur Ruhe gebracht iſt, von neuen von<lb/> ſich abzuſtoßen. Laß das Wachs nun ſelbſtthaͤtig ſeyn,<lb/> indem es die Figur annimmt, laß es ſich ſolche, ſelbſt,<lb/> ſo zu ſagen, geben, oder zum Theil doch mit wirken,<lb/> wenn es ſie empfaͤngt, ſo mag es ſie auch, wenn ſie ein-<lb/> mal ſich etwas verlohren hat, aus ſich ſelbſt wieder er-<lb/> wecken koͤnnen. Dieß hieße ſo viel, als: das Wachs<lb/> wuͤrde Reproduktionskraft beſitzen. Aber dieſe Wirkung<lb/> iſt nicht jene neue Aktion, womit die Feder den Koͤrper,<lb/> der ſie modificirt, zuruͤck treibet. Dieſe beiden Wir-<lb/> kungen ſind doch den Begriffen nach unterſchieden, und<lb/> alſo auch die Vermoͤgen dazu; wenn es auch unausge-<lb/> macht iſt, ob und in wie ferne die eine von der andern<lb/> getrennet ſeyn kann. Die vorſtellende Kraft hat nur<lb/> mit paſſiven Modifikationen zu thun, welche ſchon auf-<lb/> genommen ſind, und mit Aktionen, die ſchon einmal<lb/> vorgenommen worden ſind, und Spuren hinterlaſſen<lb/> haben; dagegen iſt das Vermoͤgen, <hi rendition="#fr">Verhaͤltniſſe zu<lb/> denken,</hi> ein Vermoͤgen, eine neue Modifikation her-<lb/> vorzubringen, und zwar da, wo der Uebergang von ei-<lb/> ner Vorſtellung zu andern <hi rendition="#fr">gefuͤhlet</hi> wird. Nach den<lb/> Begriffen zu urtheilen, auf welche die bisherige Aufloͤ-<lb/> ſung gefuͤhret hat, laſſen ſich Weſen gedenken, die fuͤh-<lb/> len, Bilder haben, Bilder wieder erwecken und auf<lb/> einander beziehen koͤnnen, ohne doch gewahrnehmen und<lb/> denken zu koͤnnen; ob es gleich unwahrſcheinlich iſt, daß<lb/> Gefuͤhl und Vorſtellungskraft in einem merklichen Grade<lb/> vorhanden ſeyn koͤnne, ohne daß aufs mindeſte ein ſchwacher<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Grad</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [614/0674]
IX. Verſuch. Ueber das Grundprincip
oder in dem Vermoͤgen, womit wir Modifikationen auf-
nehmen und zuruͤckwirken, ſo wie das Vermoͤgen ge-
wahrzunehmen es auch iſt; aber jenes iſt die Selbſtthaͤ-
tigkeit der Grundkraft von einer andern Seite betrachtet.
Das Wachs nimmt einen Abdruck an von einem Koͤrper,
der auf ſolches herunterfaͤllt, wirket zuruͤck, und behaͤlt
die Figur, ohne doch, wie die elaſtiſche Feder, dieſen
Koͤrper, wenn er zur Ruhe gebracht iſt, von neuen von
ſich abzuſtoßen. Laß das Wachs nun ſelbſtthaͤtig ſeyn,
indem es die Figur annimmt, laß es ſich ſolche, ſelbſt,
ſo zu ſagen, geben, oder zum Theil doch mit wirken,
wenn es ſie empfaͤngt, ſo mag es ſie auch, wenn ſie ein-
mal ſich etwas verlohren hat, aus ſich ſelbſt wieder er-
wecken koͤnnen. Dieß hieße ſo viel, als: das Wachs
wuͤrde Reproduktionskraft beſitzen. Aber dieſe Wirkung
iſt nicht jene neue Aktion, womit die Feder den Koͤrper,
der ſie modificirt, zuruͤck treibet. Dieſe beiden Wir-
kungen ſind doch den Begriffen nach unterſchieden, und
alſo auch die Vermoͤgen dazu; wenn es auch unausge-
macht iſt, ob und in wie ferne die eine von der andern
getrennet ſeyn kann. Die vorſtellende Kraft hat nur
mit paſſiven Modifikationen zu thun, welche ſchon auf-
genommen ſind, und mit Aktionen, die ſchon einmal
vorgenommen worden ſind, und Spuren hinterlaſſen
haben; dagegen iſt das Vermoͤgen, Verhaͤltniſſe zu
denken, ein Vermoͤgen, eine neue Modifikation her-
vorzubringen, und zwar da, wo der Uebergang von ei-
ner Vorſtellung zu andern gefuͤhlet wird. Nach den
Begriffen zu urtheilen, auf welche die bisherige Aufloͤ-
ſung gefuͤhret hat, laſſen ſich Weſen gedenken, die fuͤh-
len, Bilder haben, Bilder wieder erwecken und auf
einander beziehen koͤnnen, ohne doch gewahrnehmen und
denken zu koͤnnen; ob es gleich unwahrſcheinlich iſt, daß
Gefuͤhl und Vorſtellungskraft in einem merklichen Grade
vorhanden ſeyn koͤnne, ohne daß aufs mindeſte ein ſchwacher
Grad
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |