Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Versuch. Ueber die Natur
fenheiten, die in der gemeinen Sprache von den Ge-
müthsbewegungen unterschieden, und Vorstellungen,
Jdeen und dergleichen genennet werden?

Wolf*) hatte indessen doch einen Unterschied zwi-
schen mittelbaren und unmittelbaren Perceptionen
gemacht. Diese letztern beziehen sich auf ihre Objekte, auf
eine solche Art, daß sie unmittelbar, ohne Zwischen-
schlüsse zu erfodern, auf andere Sachen hinweisen und
selbige uns vorhalten, wie ein Portrait das Gesicht des
Menschen. Wir sehen einen Baum, und es entstehet ein
sichtliches Bild von einem Gegenstande, an dem Gestalt,
Farbe, Größe, Theile und ihre Lage gegen einander, unmit-
telbar aus diesem Bilde erkannt werden. Bis dahin ist die
Vorstellung eine unmittelbare Perception. Aber dieses
Bild ist eine Wirkung von den Lichtstralen, die in einer
gewissen Menge, auf eine gewisse Art, in einer gewissen
Lage und Ordnung, auf unsere Augen fallen, und davon,
daß dieß geschieht, liegt die Ursache wiederum in der
Größe, Lage, und Festigkeit des Körpers und seiner Be-
standtheile, welche das Licht auf eine solche bestimmte
Weise zurückwerfen. Alle übrige Eigenschaften des
Baums, die man nicht siehet, haben auf die letztge-
dachte Wirkung desselben bey dem Licht, und auf den
davon verursachten Eindruck durchs Gewicht, eine solche
Beziehung, daß jedwede von ihnen etwas dazu beygetra-
gen, und das Bild nothwendig in irgend einer Hinsicht
modificirt hat. Aber diese unsichbaren Beschaffenhei-
ten des Objekts müßten durch Raisonnements aus den
Zügen des Bildes geschlossen werden, wenn sie daraus
erkannt werden sollten. Sie gehören zu den unmittelbar
vorgestellten nicht; sondern sind nur eingewickelt in
dem Bilde enthalten.

Durch diese Unterscheidung machte Wolf es be-
greiflich, wie in einer einzigen individuellen Perception

der
*) Psycholog. Rat. §. 195.

I. Verſuch. Ueber die Natur
fenheiten, die in der gemeinen Sprache von den Ge-
muͤthsbewegungen unterſchieden, und Vorſtellungen,
Jdeen und dergleichen genennet werden?

Wolf*) hatte indeſſen doch einen Unterſchied zwi-
ſchen mittelbaren und unmittelbaren Perceptionen
gemacht. Dieſe letztern beziehen ſich auf ihre Objekte, auf
eine ſolche Art, daß ſie unmittelbar, ohne Zwiſchen-
ſchluͤſſe zu erfodern, auf andere Sachen hinweiſen und
ſelbige uns vorhalten, wie ein Portrait das Geſicht des
Menſchen. Wir ſehen einen Baum, und es entſtehet ein
ſichtliches Bild von einem Gegenſtande, an dem Geſtalt,
Farbe, Groͤße, Theile und ihre Lage gegen einander, unmit-
telbar aus dieſem Bilde erkannt werden. Bis dahin iſt die
Vorſtellung eine unmittelbare Perception. Aber dieſes
Bild iſt eine Wirkung von den Lichtſtralen, die in einer
gewiſſen Menge, auf eine gewiſſe Art, in einer gewiſſen
Lage und Ordnung, auf unſere Augen fallen, und davon,
daß dieß geſchieht, liegt die Urſache wiederum in der
Groͤße, Lage, und Feſtigkeit des Koͤrpers und ſeiner Be-
ſtandtheile, welche das Licht auf eine ſolche beſtimmte
Weiſe zuruͤckwerfen. Alle uͤbrige Eigenſchaften des
Baums, die man nicht ſiehet, haben auf die letztge-
dachte Wirkung deſſelben bey dem Licht, und auf den
davon verurſachten Eindruck durchs Gewicht, eine ſolche
Beziehung, daß jedwede von ihnen etwas dazu beygetra-
gen, und das Bild nothwendig in irgend einer Hinſicht
modificirt hat. Aber dieſe unſichbaren Beſchaffenhei-
ten des Objekts muͤßten durch Raiſonnements aus den
Zuͤgen des Bildes geſchloſſen werden, wenn ſie daraus
erkannt werden ſollten. Sie gehoͤren zu den unmittelbar
vorgeſtellten nicht; ſondern ſind nur eingewickelt in
dem Bilde enthalten.

Durch dieſe Unterſcheidung machte Wolf es be-
greiflich, wie in einer einzigen individuellen Perception

der
*) Pſycholog. Rat. §. 195.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0070" n="10"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Natur</hi></fw><lb/>
fenheiten, die in der gemeinen Sprache von den Ge-<lb/>
mu&#x0364;thsbewegungen unter&#x017F;chieden, und <hi rendition="#fr">Vor&#x017F;tellungen,</hi><lb/>
Jdeen und dergleichen genennet werden?</p><lb/>
          <p><hi rendition="#fr">Wolf</hi><note place="foot" n="*)"><hi rendition="#aq">P&#x017F;ycholog. Rat.</hi> §. 195.</note> hatte inde&#x017F;&#x017F;en doch einen Unter&#x017F;chied zwi-<lb/>
&#x017F;chen <hi rendition="#fr">mittelbaren</hi> und <hi rendition="#fr">unmittelbaren</hi> Perceptionen<lb/>
gemacht. Die&#x017F;e letztern beziehen &#x017F;ich auf ihre Objekte, auf<lb/>
eine &#x017F;olche Art, daß &#x017F;ie <hi rendition="#fr">unmittelbar,</hi> ohne Zwi&#x017F;chen-<lb/>
&#x017F;chlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e zu erfodern, auf andere Sachen hinwei&#x017F;en und<lb/>
&#x017F;elbige uns vorhalten, wie ein Portrait das Ge&#x017F;icht des<lb/>
Men&#x017F;chen. Wir &#x017F;ehen einen Baum, und es ent&#x017F;tehet ein<lb/>
&#x017F;ichtliches Bild von einem Gegen&#x017F;tande, an dem Ge&#x017F;talt,<lb/>
Farbe, Gro&#x0364;ße, Theile und ihre Lage gegen einander, unmit-<lb/>
telbar aus die&#x017F;em Bilde erkannt werden. Bis dahin i&#x017F;t die<lb/>
Vor&#x017F;tellung eine unmittelbare Perception. Aber die&#x017F;es<lb/>
Bild i&#x017F;t eine Wirkung von den Licht&#x017F;tralen, die in einer<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;en Menge, auf eine gewi&#x017F;&#x017F;e Art, in einer gewi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Lage und Ordnung, auf un&#x017F;ere Augen fallen, und davon,<lb/>
daß dieß ge&#x017F;chieht, liegt die Ur&#x017F;ache wiederum in der<lb/>
Gro&#x0364;ße, Lage, und Fe&#x017F;tigkeit des Ko&#x0364;rpers und &#x017F;einer Be-<lb/>
&#x017F;tandtheile, welche das Licht auf eine &#x017F;olche be&#x017F;timmte<lb/>
Wei&#x017F;e zuru&#x0364;ckwerfen. Alle u&#x0364;brige Eigen&#x017F;chaften des<lb/>
Baums, die man nicht &#x017F;iehet, haben auf die letztge-<lb/>
dachte Wirkung de&#x017F;&#x017F;elben bey dem Licht, und auf den<lb/>
davon verur&#x017F;achten Eindruck durchs Gewicht, eine &#x017F;olche<lb/>
Beziehung, daß jedwede von ihnen etwas dazu beygetra-<lb/>
gen, und das Bild nothwendig in irgend einer Hin&#x017F;icht<lb/>
modificirt hat. Aber die&#x017F;e un&#x017F;ichbaren Be&#x017F;chaffenhei-<lb/>
ten des Objekts mu&#x0364;ßten durch Rai&#x017F;onnements aus den<lb/>
Zu&#x0364;gen des Bildes ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en werden, wenn &#x017F;ie daraus<lb/>
erkannt werden &#x017F;ollten. Sie geho&#x0364;ren zu den unmittelbar<lb/>
vorge&#x017F;tellten nicht; &#x017F;ondern &#x017F;ind nur <hi rendition="#fr">eingewickelt in</hi><lb/>
dem Bilde enthalten.</p><lb/>
          <p>Durch die&#x017F;e Unter&#x017F;cheidung machte <hi rendition="#fr">Wolf</hi> es be-<lb/>
greiflich, wie in einer einzigen individuellen Perception<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">der</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[10/0070] I. Verſuch. Ueber die Natur fenheiten, die in der gemeinen Sprache von den Ge- muͤthsbewegungen unterſchieden, und Vorſtellungen, Jdeen und dergleichen genennet werden? Wolf *) hatte indeſſen doch einen Unterſchied zwi- ſchen mittelbaren und unmittelbaren Perceptionen gemacht. Dieſe letztern beziehen ſich auf ihre Objekte, auf eine ſolche Art, daß ſie unmittelbar, ohne Zwiſchen- ſchluͤſſe zu erfodern, auf andere Sachen hinweiſen und ſelbige uns vorhalten, wie ein Portrait das Geſicht des Menſchen. Wir ſehen einen Baum, und es entſtehet ein ſichtliches Bild von einem Gegenſtande, an dem Geſtalt, Farbe, Groͤße, Theile und ihre Lage gegen einander, unmit- telbar aus dieſem Bilde erkannt werden. Bis dahin iſt die Vorſtellung eine unmittelbare Perception. Aber dieſes Bild iſt eine Wirkung von den Lichtſtralen, die in einer gewiſſen Menge, auf eine gewiſſe Art, in einer gewiſſen Lage und Ordnung, auf unſere Augen fallen, und davon, daß dieß geſchieht, liegt die Urſache wiederum in der Groͤße, Lage, und Feſtigkeit des Koͤrpers und ſeiner Be- ſtandtheile, welche das Licht auf eine ſolche beſtimmte Weiſe zuruͤckwerfen. Alle uͤbrige Eigenſchaften des Baums, die man nicht ſiehet, haben auf die letztge- dachte Wirkung deſſelben bey dem Licht, und auf den davon verurſachten Eindruck durchs Gewicht, eine ſolche Beziehung, daß jedwede von ihnen etwas dazu beygetra- gen, und das Bild nothwendig in irgend einer Hinſicht modificirt hat. Aber dieſe unſichbaren Beſchaffenhei- ten des Objekts muͤßten durch Raiſonnements aus den Zuͤgen des Bildes geſchloſſen werden, wenn ſie daraus erkannt werden ſollten. Sie gehoͤren zu den unmittelbar vorgeſtellten nicht; ſondern ſind nur eingewickelt in dem Bilde enthalten. Durch dieſe Unterſcheidung machte Wolf es be- greiflich, wie in einer einzigen individuellen Perception der *) Pſycholog. Rat. §. 195.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/70
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/70>, abgerufen am 17.05.2024.