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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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der Vorstellungen.
Wirkungen wieder hervorbringe und mir jetzo gegen-
wärtig mache.

4) Hieraus ist es offenbar, daß eine Menge Spu-
ren oder Abdrücke von vorhergegangenen Veränderun-
gen, jede ungemischt und abgesondert von andern, in
der Seele sich erhalten haben müssen. Verschiedene Ver-
änderungen haben verschiedene Abdrücke hinterlassen,
eben so verschieden unter sich als ihre Originale. Dieß
ist eine gewisse Deutlichkeit in den Spuren. Sie zei-
get sich zum wenigsten alsdenn, wenn die Spuren selbst
bis dahin wieder hervorgezogen werden, daß wir sie in
uns gewahrnehmen.

5) Solche Spuren ehemaliger Veränderungen
muß es in der Seele geben, auch dann, wenn sie nicht
hervorgezogen werden. Wenn ich gleich zu einer Zeit
an den Mond nicht denke; so habe ich doch eine gewisse
aus der Empfindung des Mondes hinterbliebene Folge,
oder eine Spur in mir, die ich, ohne den Mond von
neuen anzuschauen, wieder erneuren kann. Worinne
bestehet aber dieser gleichsam zurückgelegte Abdruck
von jener Empfindung, welcher im Gedächtniß ruhet?
und worinn ist solcher von der wieder erweckten Nach-
bildung des Mondes unterschieden? Jst jener etwan ei-
ne blosse Disposition, ein bloßes Vermögen, oder eine
nähere Anlage, oder Aufgelegtheit, so eine der Empfin-
dung ähnliche Modifikation wieder erwecken zu können?
und worinn besteht denn eine Disposition? oder ist es
dieselbige Veränderung, die ehedem da war, welche in
meinem Jnnern unterhalten worden ist, so wie sie aus
der ersten Empfindung zurückblieb? ist sie niemalen wie-
der verloschen gewesen, und hatte sie nur etwas von ih-
rer Stärke und Lebhaftigkeit verloren, was sie haben
mußte, um als eine gegenwärtig vorhandene wahrgenom-
men zu werden; ist sie also allein an Graden und Stu-
fen von der wieder erweckten, die man in sich wahrneh-

men

der Vorſtellungen.
Wirkungen wieder hervorbringe und mir jetzo gegen-
waͤrtig mache.

4) Hieraus iſt es offenbar, daß eine Menge Spu-
ren oder Abdruͤcke von vorhergegangenen Veraͤnderun-
gen, jede ungemiſcht und abgeſondert von andern, in
der Seele ſich erhalten haben muͤſſen. Verſchiedene Ver-
aͤnderungen haben verſchiedene Abdruͤcke hinterlaſſen,
eben ſo verſchieden unter ſich als ihre Originale. Dieß
iſt eine gewiſſe Deutlichkeit in den Spuren. Sie zei-
get ſich zum wenigſten alsdenn, wenn die Spuren ſelbſt
bis dahin wieder hervorgezogen werden, daß wir ſie in
uns gewahrnehmen.

5) Solche Spuren ehemaliger Veraͤnderungen
muß es in der Seele geben, auch dann, wenn ſie nicht
hervorgezogen werden. Wenn ich gleich zu einer Zeit
an den Mond nicht denke; ſo habe ich doch eine gewiſſe
aus der Empfindung des Mondes hinterbliebene Folge,
oder eine Spur in mir, die ich, ohne den Mond von
neuen anzuſchauen, wieder erneuren kann. Worinne
beſtehet aber dieſer gleichſam zuruͤckgelegte Abdruck
von jener Empfindung, welcher im Gedaͤchtniß ruhet?
und worinn iſt ſolcher von der wieder erweckten Nach-
bildung des Mondes unterſchieden? Jſt jener etwan ei-
ne bloſſe Dispoſition, ein bloßes Vermoͤgen, oder eine
naͤhere Anlage, oder Aufgelegtheit, ſo eine der Empfin-
dung aͤhnliche Modifikation wieder erwecken zu koͤnnen?
und worinn beſteht denn eine Dispoſition? oder iſt es
dieſelbige Veraͤnderung, die ehedem da war, welche in
meinem Jnnern unterhalten worden iſt, ſo wie ſie aus
der erſten Empfindung zuruͤckblieb? iſt ſie niemalen wie-
der verloſchen geweſen, und hatte ſie nur etwas von ih-
rer Staͤrke und Lebhaftigkeit verloren, was ſie haben
mußte, um als eine gegenwaͤrtig vorhandene wahrgenom-
men zu werden; iſt ſie alſo allein an Graden und Stu-
fen von der wieder erweckten, die man in ſich wahrneh-

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[15/0075] der Vorſtellungen. Wirkungen wieder hervorbringe und mir jetzo gegen- waͤrtig mache. 4) Hieraus iſt es offenbar, daß eine Menge Spu- ren oder Abdruͤcke von vorhergegangenen Veraͤnderun- gen, jede ungemiſcht und abgeſondert von andern, in der Seele ſich erhalten haben muͤſſen. Verſchiedene Ver- aͤnderungen haben verſchiedene Abdruͤcke hinterlaſſen, eben ſo verſchieden unter ſich als ihre Originale. Dieß iſt eine gewiſſe Deutlichkeit in den Spuren. Sie zei- get ſich zum wenigſten alsdenn, wenn die Spuren ſelbſt bis dahin wieder hervorgezogen werden, daß wir ſie in uns gewahrnehmen. 5) Solche Spuren ehemaliger Veraͤnderungen muß es in der Seele geben, auch dann, wenn ſie nicht hervorgezogen werden. Wenn ich gleich zu einer Zeit an den Mond nicht denke; ſo habe ich doch eine gewiſſe aus der Empfindung des Mondes hinterbliebene Folge, oder eine Spur in mir, die ich, ohne den Mond von neuen anzuſchauen, wieder erneuren kann. Worinne beſtehet aber dieſer gleichſam zuruͤckgelegte Abdruck von jener Empfindung, welcher im Gedaͤchtniß ruhet? und worinn iſt ſolcher von der wieder erweckten Nach- bildung des Mondes unterſchieden? Jſt jener etwan ei- ne bloſſe Dispoſition, ein bloßes Vermoͤgen, oder eine naͤhere Anlage, oder Aufgelegtheit, ſo eine der Empfin- dung aͤhnliche Modifikation wieder erwecken zu koͤnnen? und worinn beſteht denn eine Dispoſition? oder iſt es dieſelbige Veraͤnderung, die ehedem da war, welche in meinem Jnnern unterhalten worden iſt, ſo wie ſie aus der erſten Empfindung zuruͤckblieb? iſt ſie niemalen wie- der verloſchen geweſen, und hatte ſie nur etwas von ih- rer Staͤrke und Lebhaftigkeit verloren, was ſie haben mußte, um als eine gegenwaͤrtig vorhandene wahrgenom- men zu werden; iſt ſie alſo allein an Graden und Stu- fen von der wieder erweckten, die man in ſich wahrneh- men

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/75>, abgerufen am 17.05.2024.