Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite
X. Versuch. Ueber die Beziehung

Aber eben diese Gattung von Empfindungen ist auch
diejenige, die in Vergleichung mit den übrigen, im Durch-
schnitt die gemäßigteste Lebhaftigkeit und Stärke besitzet.
Die stärksten Empfindungen des Gesichts, -- solche näm-
lich, wodurch wir Vorstellungen von den Objekten er-
halten, nur in Rechnung gebracht, denn die stärkere Er-
schütterung der Netzhaut, welche blendet, gehört zu den
Gefühlen -- sind schwächere, und enthalten weniger
intensive Stärke, wenigere Vielfachheit von Eindrücken,
als die stärksten Empfindungen der übrigen Sinne. Es
giebt freilich eine Menge von Eindrücken, aus jedem an-
dern Sinn, am meisten bey dem Gefühl, die an Schwä-
che einigen Gesichtseindrücken gleichkommen, und noch
unter ihnen sind. Wie viele kleinere Druckungen auf
das Gefühl, wie viele Geruchsarten, und Schalle blei-
ben nicht unbemerkt, und äußern keinen merklichen Ein-
fluß auf die innern Vermögen der Seele? So gar,
wenn man die schwächsten noch fühlbaren Eindrücke
aus jeder Klasse der fünf Sinne gegen einander stellet,
so sind unter diesen die schwächsten Gesichtsempfindungen
vielleicht die stärksten. Aber eben dieß ist es, was mit
dazu gehört, wenn die Eindrücke des Gesichts die mei-
sten Reize, und die meiste Nahrung für die Vorstel-
lungskraft enthalten sollen. Dieser Zweck erfodert, daß
die Eindrücke weder allzuschwach und unmerklich sind,
noch auch allzu heftig; und welche Klasse hat diese Eigen-
heit mehr an sich, als diejenige, deren Stärksten in
Vergleichung der Stärksten der übrigen am kleinsten
sind, und deren Schwächsten in Vergleichung mit den
Schwächsten der übrigen am stärksten sind?

Die Gesichtsempfindungen sind auch die deutlich-
sten,
in denen das Vielfache am meisten auseinander-
gesetzt, und abgesondert empfindbar ist. Jn keiner an-
dern Art giebt es mehr unterscheidbare Theile, die jeder
für sich unvermischt mit andern gefühlet werden können.

Jede
X. Verſuch. Ueber die Beziehung

Aber eben dieſe Gattung von Empfindungen iſt auch
diejenige, die in Vergleichung mit den uͤbrigen, im Durch-
ſchnitt die gemaͤßigteſte Lebhaftigkeit und Staͤrke beſitzet.
Die ſtaͤrkſten Empfindungen des Geſichts, — ſolche naͤm-
lich, wodurch wir Vorſtellungen von den Objekten er-
halten, nur in Rechnung gebracht, denn die ſtaͤrkere Er-
ſchuͤtterung der Netzhaut, welche blendet, gehoͤrt zu den
Gefuͤhlen — ſind ſchwaͤchere, und enthalten weniger
intenſive Staͤrke, wenigere Vielfachheit von Eindruͤcken,
als die ſtaͤrkſten Empfindungen der uͤbrigen Sinne. Es
giebt freilich eine Menge von Eindruͤcken, aus jedem an-
dern Sinn, am meiſten bey dem Gefuͤhl, die an Schwaͤ-
che einigen Geſichtseindruͤcken gleichkommen, und noch
unter ihnen ſind. Wie viele kleinere Druckungen auf
das Gefuͤhl, wie viele Geruchsarten, und Schalle blei-
ben nicht unbemerkt, und aͤußern keinen merklichen Ein-
fluß auf die innern Vermoͤgen der Seele? So gar,
wenn man die ſchwaͤchſten noch fuͤhlbaren Eindruͤcke
aus jeder Klaſſe der fuͤnf Sinne gegen einander ſtellet,
ſo ſind unter dieſen die ſchwaͤchſten Geſichtsempfindungen
vielleicht die ſtaͤrkſten. Aber eben dieß iſt es, was mit
dazu gehoͤrt, wenn die Eindruͤcke des Geſichts die mei-
ſten Reize, und die meiſte Nahrung fuͤr die Vorſtel-
lungskraft enthalten ſollen. Dieſer Zweck erfodert, daß
die Eindruͤcke weder allzuſchwach und unmerklich ſind,
noch auch allzu heftig; und welche Klaſſe hat dieſe Eigen-
heit mehr an ſich, als diejenige, deren Staͤrkſten in
Vergleichung der Staͤrkſten der uͤbrigen am kleinſten
ſind, und deren Schwaͤchſten in Vergleichung mit den
Schwaͤchſten der uͤbrigen am ſtaͤrkſten ſind?

Die Geſichtsempfindungen ſind auch die deutlich-
ſten,
in denen das Vielfache am meiſten auseinander-
geſetzt, und abgeſondert empfindbar iſt. Jn keiner an-
dern Art giebt es mehr unterſcheidbare Theile, die jeder
fuͤr ſich unvermiſcht mit andern gefuͤhlet werden koͤnnen.

Jede
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0776" n="716"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">X.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Beziehung</hi> </fw><lb/>
            <p>Aber eben die&#x017F;e Gattung von Empfindungen i&#x017F;t auch<lb/>
diejenige, die in Vergleichung mit den u&#x0364;brigen, im Durch-<lb/>
&#x017F;chnitt die gema&#x0364;ßigte&#x017F;te Lebhaftigkeit und Sta&#x0364;rke be&#x017F;itzet.<lb/>
Die &#x017F;ta&#x0364;rk&#x017F;ten Empfindungen des Ge&#x017F;ichts, &#x2014; &#x017F;olche na&#x0364;m-<lb/>
lich, wodurch wir Vor&#x017F;tellungen von den Objekten er-<lb/>
halten, nur in Rechnung gebracht, denn die &#x017F;ta&#x0364;rkere Er-<lb/>
&#x017F;chu&#x0364;tterung der Netzhaut, welche blendet, geho&#x0364;rt zu den<lb/>
Gefu&#x0364;hlen &#x2014; &#x017F;ind &#x017F;chwa&#x0364;chere, und enthalten weniger<lb/>
inten&#x017F;ive Sta&#x0364;rke, wenigere Vielfachheit von Eindru&#x0364;cken,<lb/>
als die &#x017F;ta&#x0364;rk&#x017F;ten Empfindungen der u&#x0364;brigen Sinne. Es<lb/>
giebt freilich eine Menge von Eindru&#x0364;cken, aus jedem an-<lb/>
dern Sinn, am mei&#x017F;ten bey dem Gefu&#x0364;hl, die an Schwa&#x0364;-<lb/>
che einigen Ge&#x017F;ichtseindru&#x0364;cken gleichkommen, und noch<lb/>
unter ihnen &#x017F;ind. Wie viele kleinere Druckungen auf<lb/>
das Gefu&#x0364;hl, wie viele Geruchsarten, und Schalle blei-<lb/>
ben nicht unbemerkt, und a&#x0364;ußern keinen merklichen Ein-<lb/>
fluß auf die innern Vermo&#x0364;gen der Seele? So gar,<lb/>
wenn man die <hi rendition="#fr">&#x017F;chwa&#x0364;ch&#x017F;ten</hi> noch fu&#x0364;hlbaren Eindru&#x0364;cke<lb/>
aus jeder Kla&#x017F;&#x017F;e der fu&#x0364;nf Sinne gegen einander &#x017F;tellet,<lb/>
&#x017F;o &#x017F;ind unter die&#x017F;en die &#x017F;chwa&#x0364;ch&#x017F;ten Ge&#x017F;ichtsempfindungen<lb/>
vielleicht die &#x017F;ta&#x0364;rk&#x017F;ten. Aber eben dieß i&#x017F;t es, was mit<lb/>
dazu geho&#x0364;rt, wenn die Eindru&#x0364;cke des Ge&#x017F;ichts die mei-<lb/>
&#x017F;ten Reize, und die mei&#x017F;te Nahrung fu&#x0364;r die Vor&#x017F;tel-<lb/>
lungskraft enthalten &#x017F;ollen. Die&#x017F;er Zweck erfodert, daß<lb/>
die Eindru&#x0364;cke weder allzu&#x017F;chwach und unmerklich &#x017F;ind,<lb/>
noch auch allzu heftig; und welche Kla&#x017F;&#x017F;e hat die&#x017F;e Eigen-<lb/>
heit mehr an &#x017F;ich, als diejenige, deren Sta&#x0364;rk&#x017F;ten in<lb/>
Vergleichung der Sta&#x0364;rk&#x017F;ten der u&#x0364;brigen am klein&#x017F;ten<lb/>
&#x017F;ind, und deren Schwa&#x0364;ch&#x017F;ten in Vergleichung mit den<lb/>
Schwa&#x0364;ch&#x017F;ten der u&#x0364;brigen am &#x017F;ta&#x0364;rk&#x017F;ten &#x017F;ind?</p><lb/>
            <p>Die Ge&#x017F;ichtsempfindungen &#x017F;ind auch die <hi rendition="#fr">deutlich-<lb/>
&#x017F;ten,</hi> in denen das Vielfache am mei&#x017F;ten auseinander-<lb/>
ge&#x017F;etzt, und abge&#x017F;ondert empfindbar i&#x017F;t. Jn keiner an-<lb/>
dern Art giebt es mehr unter&#x017F;cheidbare Theile, die jeder<lb/>
fu&#x0364;r &#x017F;ich unvermi&#x017F;cht mit andern gefu&#x0364;hlet werden ko&#x0364;nnen.<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Jede</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[716/0776] X. Verſuch. Ueber die Beziehung Aber eben dieſe Gattung von Empfindungen iſt auch diejenige, die in Vergleichung mit den uͤbrigen, im Durch- ſchnitt die gemaͤßigteſte Lebhaftigkeit und Staͤrke beſitzet. Die ſtaͤrkſten Empfindungen des Geſichts, — ſolche naͤm- lich, wodurch wir Vorſtellungen von den Objekten er- halten, nur in Rechnung gebracht, denn die ſtaͤrkere Er- ſchuͤtterung der Netzhaut, welche blendet, gehoͤrt zu den Gefuͤhlen — ſind ſchwaͤchere, und enthalten weniger intenſive Staͤrke, wenigere Vielfachheit von Eindruͤcken, als die ſtaͤrkſten Empfindungen der uͤbrigen Sinne. Es giebt freilich eine Menge von Eindruͤcken, aus jedem an- dern Sinn, am meiſten bey dem Gefuͤhl, die an Schwaͤ- che einigen Geſichtseindruͤcken gleichkommen, und noch unter ihnen ſind. Wie viele kleinere Druckungen auf das Gefuͤhl, wie viele Geruchsarten, und Schalle blei- ben nicht unbemerkt, und aͤußern keinen merklichen Ein- fluß auf die innern Vermoͤgen der Seele? So gar, wenn man die ſchwaͤchſten noch fuͤhlbaren Eindruͤcke aus jeder Klaſſe der fuͤnf Sinne gegen einander ſtellet, ſo ſind unter dieſen die ſchwaͤchſten Geſichtsempfindungen vielleicht die ſtaͤrkſten. Aber eben dieß iſt es, was mit dazu gehoͤrt, wenn die Eindruͤcke des Geſichts die mei- ſten Reize, und die meiſte Nahrung fuͤr die Vorſtel- lungskraft enthalten ſollen. Dieſer Zweck erfodert, daß die Eindruͤcke weder allzuſchwach und unmerklich ſind, noch auch allzu heftig; und welche Klaſſe hat dieſe Eigen- heit mehr an ſich, als diejenige, deren Staͤrkſten in Vergleichung der Staͤrkſten der uͤbrigen am kleinſten ſind, und deren Schwaͤchſten in Vergleichung mit den Schwaͤchſten der uͤbrigen am ſtaͤrkſten ſind? Die Geſichtsempfindungen ſind auch die deutlich- ſten, in denen das Vielfache am meiſten auseinander- geſetzt, und abgeſondert empfindbar iſt. Jn keiner an- dern Art giebt es mehr unterſcheidbare Theile, die jeder fuͤr ſich unvermiſcht mit andern gefuͤhlet werden koͤnnen. Jede

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/776
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 716. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/776>, abgerufen am 22.12.2024.