Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite
XI. Versuch. Ueber die Grundkraft

Diese Jdee von dem Grundcharakter der Mensch-
heit liegt, wie ich meine, in des sel. Reimarus Vor-
trage. Aber da er sie weiter aus einander setzte, ge-
rieth er auf eine Richtung, welche seiner Meinung die
Vorwürfe zuzog, daß er blinde Determinationen zum
Erklärungsgrunde angebe. Auch sahe er das Weni-
ger bestimmt seyn
nur für Einen der menschlichen
Vorzüge an, und die Reflexion sollte dabey die völlig
bestimmte Gränzlinie zwischen Thierheit und Menschheit
ausmachen. Sonsten würde seine Vorstellung und
seine Erklärung der thierischen Jnstinkte von den Erklä-
rungen des Hr. Herders aus der Besonnenheit *)
wohl nicht so weit verschieden seyn, als der letztere es
dafür hielt, und jene unter die misgerathenen Hypothe-
sen hinrechnete. Mir kommt es so vor, aber ich getraue
mich nicht, es völlig zu bestimmen, wie weit beide zu-
sammenkommen, weil sich beyde zu kurz und zu dunkel
ausgedruckt.

Wenn Hr. Herder sagt, die menschliche Seele be-
sitze eine größere Extension zu mehrartigen mit min-
derer Jntension
in einzelnartigen Handlungen; daß
ihre positive Kraft sich in einem größern Raum äußere,
nach feinerer Organisation, und heller, und daß in die-
ser Richtung ihrer Kräfte, in dem Verhältniß der Ex-
tension zur Jntension, darinn, daß die Menschenseele
weniger thierisch auf Einen Punkt eingeschlossen ist, die
Grundbestimmung liege, die sie zu einem besonnenen,
vernünftigen Wesen machet, so sehe ich in diesen Ausdrü-
cken nichts mehr, als in der Vorstellung des Reimarus,
nur ist alles lebhafter und stärker gesagt, so wie das Ge-
nie des Hr. Herders, der die Begriffe mehr malt, als
logisch zeichnet, es mit sich bringet. Man muß ihm da-
für Dank wissen; die Jdeen in starken Jmaginationen

einge-
*) Herder über den Ursprung der Sprache.
XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft

Dieſe Jdee von dem Grundcharakter der Menſch-
heit liegt, wie ich meine, in des ſel. Reimarus Vor-
trage. Aber da er ſie weiter aus einander ſetzte, ge-
rieth er auf eine Richtung, welche ſeiner Meinung die
Vorwuͤrfe zuzog, daß er blinde Determinationen zum
Erklaͤrungsgrunde angebe. Auch ſahe er das Weni-
ger beſtimmt ſeyn
nur fuͤr Einen der menſchlichen
Vorzuͤge an, und die Reflexion ſollte dabey die voͤllig
beſtimmte Graͤnzlinie zwiſchen Thierheit und Menſchheit
ausmachen. Sonſten wuͤrde ſeine Vorſtellung und
ſeine Erklaͤrung der thieriſchen Jnſtinkte von den Erklaͤ-
rungen des Hr. Herders aus der Beſonnenheit *)
wohl nicht ſo weit verſchieden ſeyn, als der letztere es
dafuͤr hielt, und jene unter die misgerathenen Hypothe-
ſen hinrechnete. Mir kommt es ſo vor, aber ich getraue
mich nicht, es voͤllig zu beſtimmen, wie weit beide zu-
ſammenkommen, weil ſich beyde zu kurz und zu dunkel
ausgedruckt.

Wenn Hr. Herder ſagt, die menſchliche Seele be-
ſitze eine groͤßere Extenſion zu mehrartigen mit min-
derer Jntenſion
in einzelnartigen Handlungen; daß
ihre poſitive Kraft ſich in einem groͤßern Raum aͤußere,
nach feinerer Organiſation, und heller, und daß in die-
ſer Richtung ihrer Kraͤfte, in dem Verhaͤltniß der Ex-
tenſion zur Jntenſion, darinn, daß die Menſchenſeele
weniger thieriſch auf Einen Punkt eingeſchloſſen iſt, die
Grundbeſtimmung liege, die ſie zu einem beſonnenen,
vernuͤnftigen Weſen machet, ſo ſehe ich in dieſen Ausdruͤ-
cken nichts mehr, als in der Vorſtellung des Reimarus,
nur iſt alles lebhafter und ſtaͤrker geſagt, ſo wie das Ge-
nie des Hr. Herders, der die Begriffe mehr malt, als
logiſch zeichnet, es mit ſich bringet. Man muß ihm da-
fuͤr Dank wiſſen; die Jdeen in ſtarken Jmaginationen

einge-
*) Herder uͤber den Urſprung der Sprache.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0808" n="748"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XI.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Grundkraft</hi> </fw><lb/>
            <p>Die&#x017F;e Jdee von dem Grundcharakter der Men&#x017F;ch-<lb/>
heit liegt, wie ich meine, in des &#x017F;el. Reimarus Vor-<lb/>
trage. Aber da er &#x017F;ie weiter aus einander &#x017F;etzte, ge-<lb/>
rieth er auf eine Richtung, welche &#x017F;einer Meinung die<lb/>
Vorwu&#x0364;rfe zuzog, daß er blinde Determinationen zum<lb/>
Erkla&#x0364;rungsgrunde angebe. Auch &#x017F;ahe er das <hi rendition="#fr">Weni-<lb/>
ger be&#x017F;timmt &#x017F;eyn</hi> nur fu&#x0364;r <hi rendition="#fr">Einen</hi> der men&#x017F;chlichen<lb/>
Vorzu&#x0364;ge an, und die Reflexion &#x017F;ollte dabey die vo&#x0364;llig<lb/>
be&#x017F;timmte Gra&#x0364;nzlinie zwi&#x017F;chen Thierheit und Men&#x017F;chheit<lb/>
ausmachen. Son&#x017F;ten wu&#x0364;rde &#x017F;eine Vor&#x017F;tellung und<lb/>
&#x017F;eine Erkla&#x0364;rung der thieri&#x017F;chen Jn&#x017F;tinkte von den Erkla&#x0364;-<lb/>
rungen des Hr. <hi rendition="#fr">Herders</hi> aus der <hi rendition="#fr">Be&#x017F;onnenheit</hi> <note place="foot" n="*)"><hi rendition="#fr">Herder</hi> u&#x0364;ber den Ur&#x017F;prung der Sprache.</note><lb/>
wohl nicht &#x017F;o weit ver&#x017F;chieden &#x017F;eyn, als der letztere es<lb/>
dafu&#x0364;r hielt, und jene unter die misgerathenen Hypothe-<lb/>
&#x017F;en hinrechnete. Mir kommt es &#x017F;o vor, aber ich getraue<lb/>
mich nicht, es vo&#x0364;llig zu be&#x017F;timmen, wie weit beide zu-<lb/>
&#x017F;ammenkommen, weil &#x017F;ich beyde zu kurz und zu dunkel<lb/>
ausgedruckt.</p><lb/>
            <p>Wenn Hr. <hi rendition="#fr">Herder</hi> &#x017F;agt, die men&#x017F;chliche Seele be-<lb/>
&#x017F;itze eine <hi rendition="#fr">gro&#x0364;ßere Exten&#x017F;ion</hi> zu mehrartigen mit <hi rendition="#fr">min-<lb/>
derer Jnten&#x017F;ion</hi> in einzelnartigen Handlungen; daß<lb/>
ihre po&#x017F;itive Kraft &#x017F;ich in einem gro&#x0364;ßern Raum a&#x0364;ußere,<lb/>
nach feinerer Organi&#x017F;ation, und heller, und daß in die-<lb/>
&#x017F;er Richtung ihrer Kra&#x0364;fte, in dem Verha&#x0364;ltniß der Ex-<lb/>
ten&#x017F;ion zur Jnten&#x017F;ion, darinn, daß die Men&#x017F;chen&#x017F;eele<lb/>
weniger thieri&#x017F;ch auf Einen Punkt einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t, die<lb/>
Grundbe&#x017F;timmung liege, die &#x017F;ie zu einem <hi rendition="#fr">be&#x017F;onnenen,</hi><lb/>
vernu&#x0364;nftigen We&#x017F;en machet, &#x017F;o &#x017F;ehe ich in die&#x017F;en Ausdru&#x0364;-<lb/>
cken nichts mehr, als in der Vor&#x017F;tellung des Reimarus,<lb/>
nur i&#x017F;t alles lebhafter und &#x017F;ta&#x0364;rker ge&#x017F;agt, &#x017F;o wie das Ge-<lb/>
nie des Hr. <hi rendition="#fr">Herders,</hi> der die Begriffe mehr malt, als<lb/>
logi&#x017F;ch zeichnet, es mit &#x017F;ich bringet. Man muß ihm da-<lb/>
fu&#x0364;r Dank wi&#x017F;&#x017F;en; die Jdeen in &#x017F;tarken Jmaginationen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">einge-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[748/0808] XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft Dieſe Jdee von dem Grundcharakter der Menſch- heit liegt, wie ich meine, in des ſel. Reimarus Vor- trage. Aber da er ſie weiter aus einander ſetzte, ge- rieth er auf eine Richtung, welche ſeiner Meinung die Vorwuͤrfe zuzog, daß er blinde Determinationen zum Erklaͤrungsgrunde angebe. Auch ſahe er das Weni- ger beſtimmt ſeyn nur fuͤr Einen der menſchlichen Vorzuͤge an, und die Reflexion ſollte dabey die voͤllig beſtimmte Graͤnzlinie zwiſchen Thierheit und Menſchheit ausmachen. Sonſten wuͤrde ſeine Vorſtellung und ſeine Erklaͤrung der thieriſchen Jnſtinkte von den Erklaͤ- rungen des Hr. Herders aus der Beſonnenheit *) wohl nicht ſo weit verſchieden ſeyn, als der letztere es dafuͤr hielt, und jene unter die misgerathenen Hypothe- ſen hinrechnete. Mir kommt es ſo vor, aber ich getraue mich nicht, es voͤllig zu beſtimmen, wie weit beide zu- ſammenkommen, weil ſich beyde zu kurz und zu dunkel ausgedruckt. Wenn Hr. Herder ſagt, die menſchliche Seele be- ſitze eine groͤßere Extenſion zu mehrartigen mit min- derer Jntenſion in einzelnartigen Handlungen; daß ihre poſitive Kraft ſich in einem groͤßern Raum aͤußere, nach feinerer Organiſation, und heller, und daß in die- ſer Richtung ihrer Kraͤfte, in dem Verhaͤltniß der Ex- tenſion zur Jntenſion, darinn, daß die Menſchenſeele weniger thieriſch auf Einen Punkt eingeſchloſſen iſt, die Grundbeſtimmung liege, die ſie zu einem beſonnenen, vernuͤnftigen Weſen machet, ſo ſehe ich in dieſen Ausdruͤ- cken nichts mehr, als in der Vorſtellung des Reimarus, nur iſt alles lebhafter und ſtaͤrker geſagt, ſo wie das Ge- nie des Hr. Herders, der die Begriffe mehr malt, als logiſch zeichnet, es mit ſich bringet. Man muß ihm da- fuͤr Dank wiſſen; die Jdeen in ſtarken Jmaginationen einge- *) Herder uͤber den Urſprung der Sprache.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/808
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 748. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/808>, abgerufen am 22.12.2024.