Diese Jdee von dem Grundcharakter der Mensch- heit liegt, wie ich meine, in des sel. Reimarus Vor- trage. Aber da er sie weiter aus einander setzte, ge- rieth er auf eine Richtung, welche seiner Meinung die Vorwürfe zuzog, daß er blinde Determinationen zum Erklärungsgrunde angebe. Auch sahe er das Weni- ger bestimmt seyn nur für Einen der menschlichen Vorzüge an, und die Reflexion sollte dabey die völlig bestimmte Gränzlinie zwischen Thierheit und Menschheit ausmachen. Sonsten würde seine Vorstellung und seine Erklärung der thierischen Jnstinkte von den Erklä- rungen des Hr. Herders aus der Besonnenheit*) wohl nicht so weit verschieden seyn, als der letztere es dafür hielt, und jene unter die misgerathenen Hypothe- sen hinrechnete. Mir kommt es so vor, aber ich getraue mich nicht, es völlig zu bestimmen, wie weit beide zu- sammenkommen, weil sich beyde zu kurz und zu dunkel ausgedruckt.
Wenn Hr. Herder sagt, die menschliche Seele be- sitze eine größere Extension zu mehrartigen mit min- derer Jntension in einzelnartigen Handlungen; daß ihre positive Kraft sich in einem größern Raum äußere, nach feinerer Organisation, und heller, und daß in die- ser Richtung ihrer Kräfte, in dem Verhältniß der Ex- tension zur Jntension, darinn, daß die Menschenseele weniger thierisch auf Einen Punkt eingeschlossen ist, die Grundbestimmung liege, die sie zu einem besonnenen, vernünftigen Wesen machet, so sehe ich in diesen Ausdrü- cken nichts mehr, als in der Vorstellung des Reimarus, nur ist alles lebhafter und stärker gesagt, so wie das Ge- nie des Hr. Herders, der die Begriffe mehr malt, als logisch zeichnet, es mit sich bringet. Man muß ihm da- für Dank wissen; die Jdeen in starken Jmaginationen
einge-
*)Herder über den Ursprung der Sprache.
XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft
Dieſe Jdee von dem Grundcharakter der Menſch- heit liegt, wie ich meine, in des ſel. Reimarus Vor- trage. Aber da er ſie weiter aus einander ſetzte, ge- rieth er auf eine Richtung, welche ſeiner Meinung die Vorwuͤrfe zuzog, daß er blinde Determinationen zum Erklaͤrungsgrunde angebe. Auch ſahe er das Weni- ger beſtimmt ſeyn nur fuͤr Einen der menſchlichen Vorzuͤge an, und die Reflexion ſollte dabey die voͤllig beſtimmte Graͤnzlinie zwiſchen Thierheit und Menſchheit ausmachen. Sonſten wuͤrde ſeine Vorſtellung und ſeine Erklaͤrung der thieriſchen Jnſtinkte von den Erklaͤ- rungen des Hr. Herders aus der Beſonnenheit*) wohl nicht ſo weit verſchieden ſeyn, als der letztere es dafuͤr hielt, und jene unter die misgerathenen Hypothe- ſen hinrechnete. Mir kommt es ſo vor, aber ich getraue mich nicht, es voͤllig zu beſtimmen, wie weit beide zu- ſammenkommen, weil ſich beyde zu kurz und zu dunkel ausgedruckt.
Wenn Hr. Herder ſagt, die menſchliche Seele be- ſitze eine groͤßere Extenſion zu mehrartigen mit min- derer Jntenſion in einzelnartigen Handlungen; daß ihre poſitive Kraft ſich in einem groͤßern Raum aͤußere, nach feinerer Organiſation, und heller, und daß in die- ſer Richtung ihrer Kraͤfte, in dem Verhaͤltniß der Ex- tenſion zur Jntenſion, darinn, daß die Menſchenſeele weniger thieriſch auf Einen Punkt eingeſchloſſen iſt, die Grundbeſtimmung liege, die ſie zu einem beſonnenen, vernuͤnftigen Weſen machet, ſo ſehe ich in dieſen Ausdruͤ- cken nichts mehr, als in der Vorſtellung des Reimarus, nur iſt alles lebhafter und ſtaͤrker geſagt, ſo wie das Ge- nie des Hr. Herders, der die Begriffe mehr malt, als logiſch zeichnet, es mit ſich bringet. Man muß ihm da- fuͤr Dank wiſſen; die Jdeen in ſtarken Jmaginationen
einge-
*)Herder uͤber den Urſprung der Sprache.
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XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft
Dieſe Jdee von dem Grundcharakter der Menſch-
heit liegt, wie ich meine, in des ſel. Reimarus Vor-
trage. Aber da er ſie weiter aus einander ſetzte, ge-
rieth er auf eine Richtung, welche ſeiner Meinung die
Vorwuͤrfe zuzog, daß er blinde Determinationen zum
Erklaͤrungsgrunde angebe. Auch ſahe er das Weni-
ger beſtimmt ſeyn nur fuͤr Einen der menſchlichen
Vorzuͤge an, und die Reflexion ſollte dabey die voͤllig
beſtimmte Graͤnzlinie zwiſchen Thierheit und Menſchheit
ausmachen. Sonſten wuͤrde ſeine Vorſtellung und
ſeine Erklaͤrung der thieriſchen Jnſtinkte von den Erklaͤ-
rungen des Hr. Herders aus der Beſonnenheit *)
wohl nicht ſo weit verſchieden ſeyn, als der letztere es
dafuͤr hielt, und jene unter die misgerathenen Hypothe-
ſen hinrechnete. Mir kommt es ſo vor, aber ich getraue
mich nicht, es voͤllig zu beſtimmen, wie weit beide zu-
ſammenkommen, weil ſich beyde zu kurz und zu dunkel
ausgedruckt.
Wenn Hr. Herder ſagt, die menſchliche Seele be-
ſitze eine groͤßere Extenſion zu mehrartigen mit min-
derer Jntenſion in einzelnartigen Handlungen; daß
ihre poſitive Kraft ſich in einem groͤßern Raum aͤußere,
nach feinerer Organiſation, und heller, und daß in die-
ſer Richtung ihrer Kraͤfte, in dem Verhaͤltniß der Ex-
tenſion zur Jntenſion, darinn, daß die Menſchenſeele
weniger thieriſch auf Einen Punkt eingeſchloſſen iſt, die
Grundbeſtimmung liege, die ſie zu einem beſonnenen,
vernuͤnftigen Weſen machet, ſo ſehe ich in dieſen Ausdruͤ-
cken nichts mehr, als in der Vorſtellung des Reimarus,
nur iſt alles lebhafter und ſtaͤrker geſagt, ſo wie das Ge-
nie des Hr. Herders, der die Begriffe mehr malt, als
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fuͤr Dank wiſſen; die Jdeen in ſtarken Jmaginationen
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*) Herder uͤber den Urſprung der Sprache.
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 748. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/808>, abgerufen am 22.12.2024.
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