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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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der menschlichen Seele etc.
und mannigfaltigern thierischen sinnlichen Vermögen sich
entwickeln könne; nicht, wie sie zur Menschenseele wer-
de, wenn nicht ein innerer Vorzug an Stärke und
Perfektibilität ihr an derjenigen Seite gegeben wird,
wo sie die Anlage zum Denken besitzet. Jst dieselbige
fühlende Grundkraft in den Menschen und Thieren vor-
handen, so mag nun der Mensch mannigfaltigerer Em-
pfindungen, und überhaupt einer größern Quantität der-
selben fähig seyn, als das Thier ist, dennoch kann dar-
aus noch weiter nichts entstehen, als eine feinere Sinn-
lichkeit, mehrere, und mannigfaltigere und mehr aus-
einandergesetzte Veränderungen, und mehr diesen ge-
mäße Reaktionen, Gefühle und neue Thätigkeiten.
Wo kommt denn die vorstellende, und die höher
vorstellende
und feiner fühlende Denkkraft her?
Der Vorzug an innerer Kräftengröße müßte doch auch
insbesondere auf die Selbstthätigkeit ausgedehnt wer-
den, in der der letzte Grund zum Vorstellen und zum
Denken lieget. Sollte vielleicht das innere Princip eben
durch die größere Zerstreuung des Gefühls in so viele
Richtungen, wobey es in einzelnen Richtungen geschwä-
chet wird, Raum und Freyheit gewinnen, heraus zu ge-
hen, und sich thätig zu beweisen? dieß könnte durch die
Beobachtungen in dem vorhergehenden zehnten Ver-
such
*) bestätiget werden. Die einseitigen intensivern
Empfindungen des Thiers betäuben und reißen hin, und
hindern dadurch die Besinnung; dagegen die sanftern,
gemäßigtern und mehr auseinandergesetzten menschli-
chen Gefühle die Selbstthätigkeit zum Vorstellen und
zum Denken erwecken. Aber auch hieraus würde folgen,
daß man auf die Selbstthätigkeit, als auf den Mit-
telpunkt der menschlichen Eigenheiten zurücke kommen,
und das Verhältniß der Ausdehnung zur Jntension, nur

in
*) Zehnter Versuch. V. 3. 5. 8.

der menſchlichen Seele ⁊c.
und mannigfaltigern thieriſchen ſinnlichen Vermoͤgen ſich
entwickeln koͤnne; nicht, wie ſie zur Menſchenſeele wer-
de, wenn nicht ein innerer Vorzug an Staͤrke und
Perfektibilitaͤt ihr an derjenigen Seite gegeben wird,
wo ſie die Anlage zum Denken beſitzet. Jſt dieſelbige
fuͤhlende Grundkraft in den Menſchen und Thieren vor-
handen, ſo mag nun der Menſch mannigfaltigerer Em-
pfindungen, und uͤberhaupt einer groͤßern Quantitaͤt der-
ſelben faͤhig ſeyn, als das Thier iſt, dennoch kann dar-
aus noch weiter nichts entſtehen, als eine feinere Sinn-
lichkeit, mehrere, und mannigfaltigere und mehr aus-
einandergeſetzte Veraͤnderungen, und mehr dieſen ge-
maͤße Reaktionen, Gefuͤhle und neue Thaͤtigkeiten.
Wo kommt denn die vorſtellende, und die hoͤher
vorſtellende
und feiner fuͤhlende Denkkraft her?
Der Vorzug an innerer Kraͤftengroͤße muͤßte doch auch
insbeſondere auf die Selbſtthaͤtigkeit ausgedehnt wer-
den, in der der letzte Grund zum Vorſtellen und zum
Denken lieget. Sollte vielleicht das innere Princip eben
durch die groͤßere Zerſtreuung des Gefuͤhls in ſo viele
Richtungen, wobey es in einzelnen Richtungen geſchwaͤ-
chet wird, Raum und Freyheit gewinnen, heraus zu ge-
hen, und ſich thaͤtig zu beweiſen? dieß koͤnnte durch die
Beobachtungen in dem vorhergehenden zehnten Ver-
ſuch
*) beſtaͤtiget werden. Die einſeitigen intenſivern
Empfindungen des Thiers betaͤuben und reißen hin, und
hindern dadurch die Beſinnung; dagegen die ſanftern,
gemaͤßigtern und mehr auseinandergeſetzten menſchli-
chen Gefuͤhle die Selbſtthaͤtigkeit zum Vorſtellen und
zum Denken erwecken. Aber auch hieraus wuͤrde folgen,
daß man auf die Selbſtthaͤtigkeit, als auf den Mit-
telpunkt der menſchlichen Eigenheiten zuruͤcke kommen,
und das Verhaͤltniß der Ausdehnung zur Jntenſion, nur

in
*) Zehnter Verſuch. V. 3. 5. 8.
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[751/0811] der menſchlichen Seele ⁊c. und mannigfaltigern thieriſchen ſinnlichen Vermoͤgen ſich entwickeln koͤnne; nicht, wie ſie zur Menſchenſeele wer- de, wenn nicht ein innerer Vorzug an Staͤrke und Perfektibilitaͤt ihr an derjenigen Seite gegeben wird, wo ſie die Anlage zum Denken beſitzet. Jſt dieſelbige fuͤhlende Grundkraft in den Menſchen und Thieren vor- handen, ſo mag nun der Menſch mannigfaltigerer Em- pfindungen, und uͤberhaupt einer groͤßern Quantitaͤt der- ſelben faͤhig ſeyn, als das Thier iſt, dennoch kann dar- aus noch weiter nichts entſtehen, als eine feinere Sinn- lichkeit, mehrere, und mannigfaltigere und mehr aus- einandergeſetzte Veraͤnderungen, und mehr dieſen ge- maͤße Reaktionen, Gefuͤhle und neue Thaͤtigkeiten. Wo kommt denn die vorſtellende, und die hoͤher vorſtellende und feiner fuͤhlende Denkkraft her? Der Vorzug an innerer Kraͤftengroͤße muͤßte doch auch insbeſondere auf die Selbſtthaͤtigkeit ausgedehnt wer- den, in der der letzte Grund zum Vorſtellen und zum Denken lieget. Sollte vielleicht das innere Princip eben durch die groͤßere Zerſtreuung des Gefuͤhls in ſo viele Richtungen, wobey es in einzelnen Richtungen geſchwaͤ- chet wird, Raum und Freyheit gewinnen, heraus zu ge- hen, und ſich thaͤtig zu beweiſen? dieß koͤnnte durch die Beobachtungen in dem vorhergehenden zehnten Ver- ſuch *) beſtaͤtiget werden. Die einſeitigen intenſivern Empfindungen des Thiers betaͤuben und reißen hin, und hindern dadurch die Beſinnung; dagegen die ſanftern, gemaͤßigtern und mehr auseinandergeſetzten menſchli- chen Gefuͤhle die Selbſtthaͤtigkeit zum Vorſtellen und zum Denken erwecken. Aber auch hieraus wuͤrde folgen, daß man auf die Selbſtthaͤtigkeit, als auf den Mit- telpunkt der menſchlichen Eigenheiten zuruͤcke kommen, und das Verhaͤltniß der Ausdehnung zur Jntenſion, nur in *) Zehnter Verſuch. V. 3. 5. 8.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 751. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/811>, abgerufen am 22.12.2024.