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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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entschieden lassen, und die man vielleicht am Ende mit
mehrern andern unentschieden lassen muß. Jede Un-
tersuchung über wirkliche Gegenstände endiget sich in sol-
che Fragen, die unsere Bekenntnisse sind, daß man in
das unermeßliche Feld des Unbekannten zwar mit Be-
dacht hineingesehen habe, aber nichts helle und deutlich
genug bemerken könne.

Die ersten ursprünglichen Vorstellungen will ich
Empfindungsvorstellungen nennen. Sie sind
Bilder oder Vorstellungen, wie man sie aus der Em-
pfindung
der Sachen erlanget, und stellen die Sachen
dar, wie sie empfunden werden. Wenn solche Vorstel-
lungen nach einiger Zeit wieder hervorgezogen werden,
ohne daß ihre Empfindungen vorhanden sind; so können
sie noch ebendieselbigen Züge an sich haben, die sie vor-
her an sich hatten, und also noch jetzo die Objekte so vor-
stellen, wie diese empfunden worden sind. Die er-
sten Empfindungsvorstellungen,
die während| der
Empfindung in uns entstehen, und erhalten werden, sind
die Nachempfindungen; sie sind das, was von den
Philosophen Empfindungen genennet wird, wenn
man Empfindungen zu den Vorstellungen hinrechnet.
Es ist in ihnen etwas eigenes, und unter diesem ein ei-
gener Grad der Lebhaftigkeit, der alsdenn fehlet, wenn
sie in der Abwesenheit ihrer Gegenstände wieder hervor-
kommen.

13) Die Seele beweiset sich auf verschiedene Ar-
ten wirksam bey den ursprünglichen Vorstellungen.
Wenn diese einmal in uns so klar ausgedruckt vorhanden
sind, daß sie bemerket werden können; so verlieren sie
zuweilen diese objektivische Klarheit wieder, wickeln sich
wieder ein,
wie wir sagen, und entziehen sich dem Be-
wußtseyn. Einige mögen sich gänzlich aus der Seele
verlieren, oder doch so weit sich verlieren, daß sie durch
ihre Eigenmacht aus ihr selbst nicht wieder erneuret wer-

den
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der Vorſtellungen.
entſchieden laſſen, und die man vielleicht am Ende mit
mehrern andern unentſchieden laſſen muß. Jede Un-
terſuchung uͤber wirkliche Gegenſtaͤnde endiget ſich in ſol-
che Fragen, die unſere Bekenntniſſe ſind, daß man in
das unermeßliche Feld des Unbekannten zwar mit Be-
dacht hineingeſehen habe, aber nichts helle und deutlich
genug bemerken koͤnne.

Die erſten urſpruͤnglichen Vorſtellungen will ich
Empfindungsvorſtellungen nennen. Sie ſind
Bilder oder Vorſtellungen, wie man ſie aus der Em-
pfindung
der Sachen erlanget, und ſtellen die Sachen
dar, wie ſie empfunden werden. Wenn ſolche Vorſtel-
lungen nach einiger Zeit wieder hervorgezogen werden,
ohne daß ihre Empfindungen vorhanden ſind; ſo koͤnnen
ſie noch ebendieſelbigen Zuͤge an ſich haben, die ſie vor-
her an ſich hatten, und alſo noch jetzo die Objekte ſo vor-
ſtellen, wie dieſe empfunden worden ſind. Die er-
ſten Empfindungsvorſtellungen,
die waͤhrend| der
Empfindung in uns entſtehen, und erhalten werden, ſind
die Nachempfindungen; ſie ſind das, was von den
Philoſophen Empfindungen genennet wird, wenn
man Empfindungen zu den Vorſtellungen hinrechnet.
Es iſt in ihnen etwas eigenes, und unter dieſem ein ei-
gener Grad der Lebhaftigkeit, der alsdenn fehlet, wenn
ſie in der Abweſenheit ihrer Gegenſtaͤnde wieder hervor-
kommen.

13) Die Seele beweiſet ſich auf verſchiedene Ar-
ten wirkſam bey den urſpruͤnglichen Vorſtellungen.
Wenn dieſe einmal in uns ſo klar ausgedruckt vorhanden
ſind, daß ſie bemerket werden koͤnnen; ſo verlieren ſie
zuweilen dieſe objektiviſche Klarheit wieder, wickeln ſich
wieder ein,
wie wir ſagen, und entziehen ſich dem Be-
wußtſeyn. Einige moͤgen ſich gaͤnzlich aus der Seele
verlieren, oder doch ſo weit ſich verlieren, daß ſie durch
ihre Eigenmacht aus ihr ſelbſt nicht wieder erneuret wer-

den
B 4
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[23/0083] der Vorſtellungen. entſchieden laſſen, und die man vielleicht am Ende mit mehrern andern unentſchieden laſſen muß. Jede Un- terſuchung uͤber wirkliche Gegenſtaͤnde endiget ſich in ſol- che Fragen, die unſere Bekenntniſſe ſind, daß man in das unermeßliche Feld des Unbekannten zwar mit Be- dacht hineingeſehen habe, aber nichts helle und deutlich genug bemerken koͤnne. Die erſten urſpruͤnglichen Vorſtellungen will ich Empfindungsvorſtellungen nennen. Sie ſind Bilder oder Vorſtellungen, wie man ſie aus der Em- pfindung der Sachen erlanget, und ſtellen die Sachen dar, wie ſie empfunden werden. Wenn ſolche Vorſtel- lungen nach einiger Zeit wieder hervorgezogen werden, ohne daß ihre Empfindungen vorhanden ſind; ſo koͤnnen ſie noch ebendieſelbigen Zuͤge an ſich haben, die ſie vor- her an ſich hatten, und alſo noch jetzo die Objekte ſo vor- ſtellen, wie dieſe empfunden worden ſind. Die er- ſten Empfindungsvorſtellungen, die waͤhrend| der Empfindung in uns entſtehen, und erhalten werden, ſind die Nachempfindungen; ſie ſind das, was von den Philoſophen Empfindungen genennet wird, wenn man Empfindungen zu den Vorſtellungen hinrechnet. Es iſt in ihnen etwas eigenes, und unter dieſem ein ei- gener Grad der Lebhaftigkeit, der alsdenn fehlet, wenn ſie in der Abweſenheit ihrer Gegenſtaͤnde wieder hervor- kommen. 13) Die Seele beweiſet ſich auf verſchiedene Ar- ten wirkſam bey den urſpruͤnglichen Vorſtellungen. Wenn dieſe einmal in uns ſo klar ausgedruckt vorhanden ſind, daß ſie bemerket werden koͤnnen; ſo verlieren ſie zuweilen dieſe objektiviſche Klarheit wieder, wickeln ſich wieder ein, wie wir ſagen, und entziehen ſich dem Be- wußtſeyn. Einige moͤgen ſich gaͤnzlich aus der Seele verlieren, oder doch ſo weit ſich verlieren, daß ſie durch ihre Eigenmacht aus ihr ſelbſt nicht wieder erneuret wer- den B 4

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/83>, abgerufen am 17.05.2024.