den können. Alsdenn müssen sie von neuem aus eben solchen Zuständen erzeuget werden, woraus sie das er- stemal entstanden sind, wenn sie wiederum in sie hinein gebracht werden sollen. Sie hören alsdenn auch auf, Vorstellungen zu seyn. Jch sage, so etwas mag gesche- hen. Wir haben Erfahrungen, die es lehren, mit wel- cher fast unglaublichen Festigkeit die einmal angenomme- ne und tief genug eingedruckte Vorstellungen in dem Jn- nern der Seele sich erhalten, und wie leicht man sich ir- ren könne, wenn man sie darum schon für völlig verlo- schen hält, weil etwa die Seelenkraft bey ihrer gewöhn- lichen Anstrengung sie nicht bis zum Bemerkbarwerden wieder entwickeln kann. Aber so viel ist offenbar, daß eine große Menge von ihnen zwar verdunkelt oder einge- wickelt, aber auch durch die Eigenmacht der Seele wie- der hervorgezogen, und beobachtbar gemacht werden kann. Dahero schreiben wir der Seele, nicht nur ein Vermögen, Vorstellungen in sich aufzunehmen (facultas percipiendi) eine Fassungskraft, zu, sondern auch ein Vermögen, sie wieder hervorzuziehen, eine Wieder- vorstellungskraft, die man gewöhnlich die Phanta- sie oder die Einbildungskraft nennet, welche letztere Benennungen dieß Vermögen, in so ferne es bildliche Empfindungsvorstellungen erneuert, am eigentlichsten bezeichnet.
14) Die ursprünglichen Vorstellungen sind die Materie und der Stof aller übrigen, das ist, aller abgeleiteten Vorstellungen. Die Seele besitzet das Vermögen, jene auseinander zu legen, zu zertheilen, von einander abzutrennen, und die einzelne Stücke und Bestandtheile wieder zu vermischen, zu verbinden und zusammenzusetzen. Hier zeiget sich ihr Dichtungsver- mögen, ihre bildende, schaffende Kraft, und äußert sich auf so mannigfaltige Arten, als die schaffende Kraft der körperlichen Natur, die sich zwar keinen neuen
Stof,
I. Verſuch. Ueber die Natur
den koͤnnen. Alsdenn muͤſſen ſie von neuem aus eben ſolchen Zuſtaͤnden erzeuget werden, woraus ſie das er- ſtemal entſtanden ſind, wenn ſie wiederum in ſie hinein gebracht werden ſollen. Sie hoͤren alsdenn auch auf, Vorſtellungen zu ſeyn. Jch ſage, ſo etwas mag geſche- hen. Wir haben Erfahrungen, die es lehren, mit wel- cher faſt unglaublichen Feſtigkeit die einmal angenomme- ne und tief genug eingedruckte Vorſtellungen in dem Jn- nern der Seele ſich erhalten, und wie leicht man ſich ir- ren koͤnne, wenn man ſie darum ſchon fuͤr voͤllig verlo- ſchen haͤlt, weil etwa die Seelenkraft bey ihrer gewoͤhn- lichen Anſtrengung ſie nicht bis zum Bemerkbarwerden wieder entwickeln kann. Aber ſo viel iſt offenbar, daß eine große Menge von ihnen zwar verdunkelt oder einge- wickelt, aber auch durch die Eigenmacht der Seele wie- der hervorgezogen, und beobachtbar gemacht werden kann. Dahero ſchreiben wir der Seele, nicht nur ein Vermoͤgen, Vorſtellungen in ſich aufzunehmen (facultas percipiendi) eine Faſſungskraft, zu, ſondern auch ein Vermoͤgen, ſie wieder hervorzuziehen, eine Wieder- vorſtellungskraft, die man gewoͤhnlich die Phanta- ſie oder die Einbildungskraft nennet, welche letztere Benennungen dieß Vermoͤgen, in ſo ferne es bildliche Empfindungsvorſtellungen erneuert, am eigentlichſten bezeichnet.
14) Die urſpruͤnglichen Vorſtellungen ſind die Materie und der Stof aller uͤbrigen, das iſt, aller abgeleiteten Vorſtellungen. Die Seele beſitzet das Vermoͤgen, jene auseinander zu legen, zu zertheilen, von einander abzutrennen, und die einzelne Stuͤcke und Beſtandtheile wieder zu vermiſchen, zu verbinden und zuſammenzuſetzen. Hier zeiget ſich ihr Dichtungsver- moͤgen, ihre bildende, ſchaffende Kraft, und aͤußert ſich auf ſo mannigfaltige Arten, als die ſchaffende Kraft der koͤrperlichen Natur, die ſich zwar keinen neuen
Stof,
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I. Verſuch. Ueber die Natur
den koͤnnen. Alsdenn muͤſſen ſie von neuem aus eben
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ſtemal entſtanden ſind, wenn ſie wiederum in ſie hinein
gebracht werden ſollen. Sie hoͤren alsdenn auch auf,
Vorſtellungen zu ſeyn. Jch ſage, ſo etwas mag geſche-
hen. Wir haben Erfahrungen, die es lehren, mit wel-
cher faſt unglaublichen Feſtigkeit die einmal angenomme-
ne und tief genug eingedruckte Vorſtellungen in dem Jn-
nern der Seele ſich erhalten, und wie leicht man ſich ir-
ren koͤnne, wenn man ſie darum ſchon fuͤr voͤllig verlo-
ſchen haͤlt, weil etwa die Seelenkraft bey ihrer gewoͤhn-
lichen Anſtrengung ſie nicht bis zum Bemerkbarwerden
wieder entwickeln kann. Aber ſo viel iſt offenbar, daß
eine große Menge von ihnen zwar verdunkelt oder einge-
wickelt, aber auch durch die Eigenmacht der Seele wie-
der hervorgezogen, und beobachtbar gemacht werden
kann. Dahero ſchreiben wir der Seele, nicht nur ein
Vermoͤgen, Vorſtellungen in ſich aufzunehmen (facultas
percipiendi) eine Faſſungskraft, zu, ſondern auch ein
Vermoͤgen, ſie wieder hervorzuziehen, eine Wieder-
vorſtellungskraft, die man gewoͤhnlich die Phanta-
ſie oder die Einbildungskraft nennet, welche letztere
Benennungen dieß Vermoͤgen, in ſo ferne es bildliche
Empfindungsvorſtellungen erneuert, am eigentlichſten
bezeichnet.
14) Die urſpruͤnglichen Vorſtellungen ſind
die Materie und der Stof aller uͤbrigen, das iſt, aller
abgeleiteten Vorſtellungen. Die Seele beſitzet das
Vermoͤgen, jene auseinander zu legen, zu zertheilen,
von einander abzutrennen, und die einzelne Stuͤcke und
Beſtandtheile wieder zu vermiſchen, zu verbinden und
zuſammenzuſetzen. Hier zeiget ſich ihr Dichtungsver-
moͤgen, ihre bildende, ſchaffende Kraft, und
aͤußert ſich auf ſo mannigfaltige Arten, als die ſchaffende
Kraft der koͤrperlichen Natur, die ſich zwar keinen neuen
Stof,
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/84>, abgerufen am 22.12.2024.
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