Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Versuch. Ueber die Natur
seyn, ehe es seine Töne am vollkommensten nnd reinsten
angeben könne. Die Saite muß auch nach einigem Ge-
brauch von neuem wieder gestimmet werden, und zuletzt
verlieret sie blos durch den allzuhäufigen Gebrauch den
nöthigen Grad der Elasticität. Es muß also von der
ersten Bewegung eine gewisse Wirkung in dem Körper
und in der Kraft der Saite zurückgeblieben seyn, die in
den einzelen Schwingungen unbemerkbar war, aber in
der Folge sich offenbarte. Gleichwohl hat die Saite,
wie es oben schon erinnert worden ist, keine Kraft, sich
selbst, in einen ihrer vorigen Schwünge wieder zu ver-
setzen. Dieß Beyspiel soll nichts beweisen; sondern nur
auf den Unterschied zwischen den Empfindungen und
den Nachempfindungen, als den zuerst entstehenden
Empfindungsvorstellungen aufmerksam machen.

Wir richten die Augen auf den Mond. Die Licht-
strahlen fallen hinein, durchkreuzen sich in ihnen, laufen
auf der Netzhaut in ein Bild zusammen, rühren den
Sehenerven sinnlich; und in dem Jnnern von uns, in
der Seele, entstehet, auf welche Art es auch geschehe,
eine Modifikation, ein Eindruck, den wir fühlen. Da
ist die Empfindung des Mondes, aber noch nicht
die Vorstellung desselben.

Diese Modifikation bestehet eine Weile in uns, wenn
gleich von außen kein Lichtstrahl mehr ins Auge hinein-
fällt. Da ist die Nachempfindung, oder die Em-
pfindungsvorstellung
des gegenwärtigen Objekts,
oder auch die Empfindung selbst, als eine Vorstel-
lung
des Gegenwärtigen betrachtet. Dieß Fortdauern
des sinnlichen Eindrucks ist außer Zweifel. Es ist die
Ursache, warum eine schnell in einem Kreis herumgedre-
hete glüende Kohle den Schein eines ganzen leuchtenden
Kreises hervorbringet. Diese und andere gemeine Er-
fahrungen lehren uns, daß der Eindruck, den man
von einem gesehenen Gegenstande erlanget hat, ein ge-

wisses

I. Verſuch. Ueber die Natur
ſeyn, ehe es ſeine Toͤne am vollkommenſten nnd reinſten
angeben koͤnne. Die Saite muß auch nach einigem Ge-
brauch von neuem wieder geſtimmet werden, und zuletzt
verlieret ſie blos durch den allzuhaͤufigen Gebrauch den
noͤthigen Grad der Elaſticitaͤt. Es muß alſo von der
erſten Bewegung eine gewiſſe Wirkung in dem Koͤrper
und in der Kraft der Saite zuruͤckgeblieben ſeyn, die in
den einzelen Schwingungen unbemerkbar war, aber in
der Folge ſich offenbarte. Gleichwohl hat die Saite,
wie es oben ſchon erinnert worden iſt, keine Kraft, ſich
ſelbſt, in einen ihrer vorigen Schwuͤnge wieder zu ver-
ſetzen. Dieß Beyſpiel ſoll nichts beweiſen; ſondern nur
auf den Unterſchied zwiſchen den Empfindungen und
den Nachempfindungen, als den zuerſt entſtehenden
Empfindungsvorſtellungen aufmerkſam machen.

Wir richten die Augen auf den Mond. Die Licht-
ſtrahlen fallen hinein, durchkreuzen ſich in ihnen, laufen
auf der Netzhaut in ein Bild zuſammen, ruͤhren den
Sehenerven ſinnlich; und in dem Jnnern von uns, in
der Seele, entſtehet, auf welche Art es auch geſchehe,
eine Modifikation, ein Eindruck, den wir fuͤhlen. Da
iſt die Empfindung des Mondes, aber noch nicht
die Vorſtellung deſſelben.

Dieſe Modifikation beſtehet eine Weile in uns, wenn
gleich von außen kein Lichtſtrahl mehr ins Auge hinein-
faͤllt. Da iſt die Nachempfindung, oder die Em-
pfindungsvorſtellung
des gegenwaͤrtigen Objekts,
oder auch die Empfindung ſelbſt, als eine Vorſtel-
lung
des Gegenwaͤrtigen betrachtet. Dieß Fortdauern
des ſinnlichen Eindrucks iſt außer Zweifel. Es iſt die
Urſache, warum eine ſchnell in einem Kreis herumgedre-
hete gluͤende Kohle den Schein eines ganzen leuchtenden
Kreiſes hervorbringet. Dieſe und andere gemeine Er-
fahrungen lehren uns, daß der Eindruck, den man
von einem geſehenen Gegenſtande erlanget hat, ein ge-

wiſſes
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0092" n="32"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Natur</hi></fw><lb/>
&#x017F;eyn, ehe es &#x017F;eine To&#x0364;ne am vollkommen&#x017F;ten nnd rein&#x017F;ten<lb/>
angeben ko&#x0364;nne. Die Saite muß auch nach einigem Ge-<lb/>
brauch von neuem wieder ge&#x017F;timmet werden, und zuletzt<lb/>
verlieret &#x017F;ie blos durch den allzuha&#x0364;ufigen Gebrauch den<lb/>
no&#x0364;thigen Grad der Ela&#x017F;ticita&#x0364;t. Es muß al&#x017F;o von der<lb/>
er&#x017F;ten Bewegung eine gewi&#x017F;&#x017F;e Wirkung in dem Ko&#x0364;rper<lb/>
und in der Kraft der Saite zuru&#x0364;ckgeblieben &#x017F;eyn, die in<lb/>
den einzelen Schwingungen unbemerkbar war, aber in<lb/>
der Folge &#x017F;ich offenbarte. Gleichwohl hat die Saite,<lb/>
wie es oben &#x017F;chon erinnert worden i&#x017F;t, keine Kraft, &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t, in einen ihrer vorigen Schwu&#x0364;nge wieder zu ver-<lb/>
&#x017F;etzen. Dieß Bey&#x017F;piel &#x017F;oll nichts bewei&#x017F;en; &#x017F;ondern nur<lb/>
auf den Unter&#x017F;chied zwi&#x017F;chen den <hi rendition="#fr">Empfindungen</hi> und<lb/>
den <hi rendition="#fr">Nachempfindungen,</hi> als den zuer&#x017F;t ent&#x017F;tehenden<lb/><hi rendition="#fr">Empfindungsvor&#x017F;tellungen</hi> aufmerk&#x017F;am machen.</p><lb/>
          <p>Wir richten die Augen auf den Mond. Die Licht-<lb/>
&#x017F;trahlen fallen hinein, durchkreuzen &#x017F;ich in ihnen, laufen<lb/>
auf der Netzhaut in ein Bild zu&#x017F;ammen, ru&#x0364;hren den<lb/>
Sehenerven &#x017F;innlich; und in dem Jnnern von uns, in<lb/>
der Seele, ent&#x017F;tehet, auf welche Art es auch ge&#x017F;chehe,<lb/>
eine Modifikation, ein Eindruck, den wir <hi rendition="#fr">fu&#x0364;hlen.</hi> Da<lb/>
i&#x017F;t die <hi rendition="#fr">Empfindung des Mondes,</hi> aber noch nicht<lb/>
die <hi rendition="#fr">Vor&#x017F;tellung</hi> de&#x017F;&#x017F;elben.</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;e Modifikation be&#x017F;tehet eine Weile in uns, wenn<lb/>
gleich von außen kein Licht&#x017F;trahl mehr ins Auge hinein-<lb/>
fa&#x0364;llt. Da i&#x017F;t die <hi rendition="#fr">Nachempfindung,</hi> oder die <hi rendition="#fr">Em-<lb/>
pfindungsvor&#x017F;tellung</hi> des <hi rendition="#fr">gegenwa&#x0364;rtigen</hi> Objekts,<lb/>
oder auch die <hi rendition="#fr">Empfindung</hi> &#x017F;elb&#x017F;t, als eine <hi rendition="#fr">Vor&#x017F;tel-<lb/>
lung</hi> des Gegenwa&#x0364;rtigen betrachtet. Dieß Fortdauern<lb/>
des &#x017F;innlichen Eindrucks i&#x017F;t außer Zweifel. Es i&#x017F;t die<lb/>
Ur&#x017F;ache, warum eine &#x017F;chnell in einem Kreis herumgedre-<lb/>
hete glu&#x0364;ende Kohle den Schein eines ganzen leuchtenden<lb/>
Krei&#x017F;es hervorbringet. Die&#x017F;e und andere gemeine Er-<lb/>
fahrungen lehren uns, daß der <hi rendition="#fr">Eindruck,</hi> den man<lb/>
von einem <hi rendition="#fr">ge&#x017F;ehenen</hi> Gegen&#x017F;tande erlanget hat, ein ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wi&#x017F;&#x017F;es</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[32/0092] I. Verſuch. Ueber die Natur ſeyn, ehe es ſeine Toͤne am vollkommenſten nnd reinſten angeben koͤnne. Die Saite muß auch nach einigem Ge- brauch von neuem wieder geſtimmet werden, und zuletzt verlieret ſie blos durch den allzuhaͤufigen Gebrauch den noͤthigen Grad der Elaſticitaͤt. Es muß alſo von der erſten Bewegung eine gewiſſe Wirkung in dem Koͤrper und in der Kraft der Saite zuruͤckgeblieben ſeyn, die in den einzelen Schwingungen unbemerkbar war, aber in der Folge ſich offenbarte. Gleichwohl hat die Saite, wie es oben ſchon erinnert worden iſt, keine Kraft, ſich ſelbſt, in einen ihrer vorigen Schwuͤnge wieder zu ver- ſetzen. Dieß Beyſpiel ſoll nichts beweiſen; ſondern nur auf den Unterſchied zwiſchen den Empfindungen und den Nachempfindungen, als den zuerſt entſtehenden Empfindungsvorſtellungen aufmerkſam machen. Wir richten die Augen auf den Mond. Die Licht- ſtrahlen fallen hinein, durchkreuzen ſich in ihnen, laufen auf der Netzhaut in ein Bild zuſammen, ruͤhren den Sehenerven ſinnlich; und in dem Jnnern von uns, in der Seele, entſtehet, auf welche Art es auch geſchehe, eine Modifikation, ein Eindruck, den wir fuͤhlen. Da iſt die Empfindung des Mondes, aber noch nicht die Vorſtellung deſſelben. Dieſe Modifikation beſtehet eine Weile in uns, wenn gleich von außen kein Lichtſtrahl mehr ins Auge hinein- faͤllt. Da iſt die Nachempfindung, oder die Em- pfindungsvorſtellung des gegenwaͤrtigen Objekts, oder auch die Empfindung ſelbſt, als eine Vorſtel- lung des Gegenwaͤrtigen betrachtet. Dieß Fortdauern des ſinnlichen Eindrucks iſt außer Zweifel. Es iſt die Urſache, warum eine ſchnell in einem Kreis herumgedre- hete gluͤende Kohle den Schein eines ganzen leuchtenden Kreiſes hervorbringet. Dieſe und andere gemeine Er- fahrungen lehren uns, daß der Eindruck, den man von einem geſehenen Gegenſtande erlanget hat, ein ge- wiſſes

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/92
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/92>, abgerufen am 22.12.2024.