Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

der Vorstellungen.
Wer ein Gespenst siehet, wo nichts ist, empfängt einen
Eindruck auf das Jnnere seines Sehwerkzeugs, und
nimmt die damit vergesellschaftete Modifikation in der
Seele auf, fühlet sie. Bis so weit geht die falsche Em-
pfindung. Nun unterhält sie diesen Eindruck in sich,
und empfindet nach. Alsdenn nimmt er sie gewahr,
und reflektirt darüber, wie über eine Empfindungsvor-
stellung eines äußern gegenwärtigen Dinges.

Die Einbildung eines gesehenen Gegenstandes ist
also die wieder erweckte Nachempfindung desselben, in ei-
nem schwächern Grade ausgedrückt. Die Einbildun-
gen gehören dahero zu den Empfindungsvorstel-
lungen,
oder zu den ursprünglichen Vorstellungen;
ob sie gleich nicht mehr die ersten selbst sind, sondern ihre
Wiederholungen. Die Stufen der Lebhaftigkeit aber
und der Deutlichkeit und Völligkeit in den Einbildun-
gen sind unendlich mannigfaltig: man mag entweder
die Einbildungen unter sich vergleichen, oder auf das
Verhältniß sehen, worinn die Lebhaftigkeit und Deut-
lichkeit einer jeden Einbildung mit der Lebhaftigkeit und
Deutlichkeit der Empfindung stehet, zu welcher sie gehö-
ret. Zuweilen sind sie die mattesten Nachbildungen,
und enthalten nur einige wenige Züge von der Empfin-
dung. Zu einer andern Zeit sind sie deutlichere Bilder,
und so kenntliche Schatten, wie Aeneas in den Elisäi-
schen Feldern antraf. Oefters bestehet fast die ganze
Reproduktion mehr in einem Bestreben, eine ehema-
lige Empfindung wieder hervorzuziehen, als daß sie eine
wirklich wiedererweckte Empfindung selbst genennet wer-
den könnte. Oft sind es nur rohe Umzüge der Sachen,
oft nur eine oder andere Seite; nur eine oder andere
Beschaffenheit, Verhältniß und dergleichen, was bis
dahin wieder erneuert wird, daß es wahrgenommen wer-
den kann; zuweilen sind es die stärksten Gemählde, die
den Empfindungen nahe kommen, je nachdem die re-

produ-
C 4

der Vorſtellungen.
Wer ein Geſpenſt ſiehet, wo nichts iſt, empfaͤngt einen
Eindruck auf das Jnnere ſeines Sehwerkzeugs, und
nimmt die damit vergeſellſchaftete Modifikation in der
Seele auf, fuͤhlet ſie. Bis ſo weit geht die falſche Em-
pfindung. Nun unterhaͤlt ſie dieſen Eindruck in ſich,
und empfindet nach. Alsdenn nimmt er ſie gewahr,
und reflektirt daruͤber, wie uͤber eine Empfindungsvor-
ſtellung eines aͤußern gegenwaͤrtigen Dinges.

Die Einbildung eines geſehenen Gegenſtandes iſt
alſo die wieder erweckte Nachempfindung deſſelben, in ei-
nem ſchwaͤchern Grade ausgedruͤckt. Die Einbildun-
gen gehoͤren dahero zu den Empfindungsvorſtel-
lungen,
oder zu den urſpruͤnglichen Vorſtellungen;
ob ſie gleich nicht mehr die erſten ſelbſt ſind, ſondern ihre
Wiederholungen. Die Stufen der Lebhaftigkeit aber
und der Deutlichkeit und Voͤlligkeit in den Einbildun-
gen ſind unendlich mannigfaltig: man mag entweder
die Einbildungen unter ſich vergleichen, oder auf das
Verhaͤltniß ſehen, worinn die Lebhaftigkeit und Deut-
lichkeit einer jeden Einbildung mit der Lebhaftigkeit und
Deutlichkeit der Empfindung ſtehet, zu welcher ſie gehoͤ-
ret. Zuweilen ſind ſie die matteſten Nachbildungen,
und enthalten nur einige wenige Zuͤge von der Empfin-
dung. Zu einer andern Zeit ſind ſie deutlichere Bilder,
und ſo kenntliche Schatten, wie Aeneas in den Eliſaͤi-
ſchen Feldern antraf. Oefters beſtehet faſt die ganze
Reproduktion mehr in einem Beſtreben, eine ehema-
lige Empfindung wieder hervorzuziehen, als daß ſie eine
wirklich wiedererweckte Empfindung ſelbſt genennet wer-
den koͤnnte. Oft ſind es nur rohe Umzuͤge der Sachen,
oft nur eine oder andere Seite; nur eine oder andere
Beſchaffenheit, Verhaͤltniß und dergleichen, was bis
dahin wieder erneuert wird, daß es wahrgenommen wer-
den kann; zuweilen ſind es die ſtaͤrkſten Gemaͤhlde, die
den Empfindungen nahe kommen, je nachdem die re-

produ-
C 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0099" n="39"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der Vor&#x017F;tellungen.</hi></fw><lb/>
Wer ein Ge&#x017F;pen&#x017F;t &#x017F;iehet, wo nichts i&#x017F;t, empfa&#x0364;ngt einen<lb/>
Eindruck auf das Jnnere &#x017F;eines Sehwerkzeugs, und<lb/>
nimmt die damit verge&#x017F;ell&#x017F;chaftete Modifikation in der<lb/>
Seele auf, fu&#x0364;hlet &#x017F;ie. Bis &#x017F;o weit geht die fal&#x017F;che Em-<lb/>
pfindung. Nun unterha&#x0364;lt &#x017F;ie die&#x017F;en Eindruck in &#x017F;ich,<lb/>
und empfindet nach. Alsdenn nimmt er &#x017F;ie gewahr,<lb/>
und reflektirt daru&#x0364;ber, wie u&#x0364;ber eine Empfindungsvor-<lb/>
&#x017F;tellung eines a&#x0364;ußern gegenwa&#x0364;rtigen Dinges.</p><lb/>
          <p>Die <hi rendition="#fr">Einbildung</hi> eines ge&#x017F;ehenen Gegen&#x017F;tandes i&#x017F;t<lb/>
al&#x017F;o die wieder erweckte Nachempfindung de&#x017F;&#x017F;elben, in ei-<lb/>
nem &#x017F;chwa&#x0364;chern Grade ausgedru&#x0364;ckt. Die Einbildun-<lb/>
gen geho&#x0364;ren dahero zu den <hi rendition="#fr">Empfindungsvor&#x017F;tel-<lb/>
lungen,</hi> oder zu den <hi rendition="#fr">ur&#x017F;pru&#x0364;nglichen</hi> Vor&#x017F;tellungen;<lb/>
ob &#x017F;ie gleich nicht mehr die er&#x017F;ten &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ind, &#x017F;ondern ihre<lb/>
Wiederholungen. Die Stufen der Lebhaftigkeit aber<lb/>
und der Deutlichkeit und Vo&#x0364;lligkeit in den Einbildun-<lb/>
gen &#x017F;ind unendlich mannigfaltig: man mag entweder<lb/>
die Einbildungen unter &#x017F;ich vergleichen, oder auf das<lb/>
Verha&#x0364;ltniß &#x017F;ehen, worinn die Lebhaftigkeit und Deut-<lb/>
lichkeit einer jeden Einbildung mit der Lebhaftigkeit und<lb/>
Deutlichkeit der Empfindung &#x017F;tehet, zu welcher &#x017F;ie geho&#x0364;-<lb/>
ret. Zuweilen &#x017F;ind &#x017F;ie die matte&#x017F;ten Nachbildungen,<lb/>
und enthalten nur einige wenige Zu&#x0364;ge von der Empfin-<lb/>
dung. Zu einer andern Zeit &#x017F;ind &#x017F;ie deutlichere Bilder,<lb/>
und &#x017F;o kenntliche Schatten, wie Aeneas in den Eli&#x017F;a&#x0364;i-<lb/>
&#x017F;chen Feldern antraf. Oefters be&#x017F;tehet fa&#x017F;t die ganze<lb/>
Reproduktion mehr in einem <hi rendition="#fr">Be&#x017F;treben,</hi> eine ehema-<lb/>
lige Empfindung wieder hervorzuziehen, als daß &#x017F;ie eine<lb/>
wirklich wiedererweckte Empfindung &#x017F;elb&#x017F;t genennet wer-<lb/>
den ko&#x0364;nnte. Oft &#x017F;ind es nur rohe Umzu&#x0364;ge der Sachen,<lb/>
oft nur eine oder andere Seite; nur eine oder andere<lb/>
Be&#x017F;chaffenheit, Verha&#x0364;ltniß und dergleichen, was bis<lb/>
dahin wieder erneuert wird, daß es wahrgenommen wer-<lb/>
den kann; zuweilen &#x017F;ind es die &#x017F;ta&#x0364;rk&#x017F;ten Gema&#x0364;hlde, die<lb/>
den Empfindungen nahe kommen, je nachdem die re-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">C 4</fw><fw place="bottom" type="catch">produ-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[39/0099] der Vorſtellungen. Wer ein Geſpenſt ſiehet, wo nichts iſt, empfaͤngt einen Eindruck auf das Jnnere ſeines Sehwerkzeugs, und nimmt die damit vergeſellſchaftete Modifikation in der Seele auf, fuͤhlet ſie. Bis ſo weit geht die falſche Em- pfindung. Nun unterhaͤlt ſie dieſen Eindruck in ſich, und empfindet nach. Alsdenn nimmt er ſie gewahr, und reflektirt daruͤber, wie uͤber eine Empfindungsvor- ſtellung eines aͤußern gegenwaͤrtigen Dinges. Die Einbildung eines geſehenen Gegenſtandes iſt alſo die wieder erweckte Nachempfindung deſſelben, in ei- nem ſchwaͤchern Grade ausgedruͤckt. Die Einbildun- gen gehoͤren dahero zu den Empfindungsvorſtel- lungen, oder zu den urſpruͤnglichen Vorſtellungen; ob ſie gleich nicht mehr die erſten ſelbſt ſind, ſondern ihre Wiederholungen. Die Stufen der Lebhaftigkeit aber und der Deutlichkeit und Voͤlligkeit in den Einbildun- gen ſind unendlich mannigfaltig: man mag entweder die Einbildungen unter ſich vergleichen, oder auf das Verhaͤltniß ſehen, worinn die Lebhaftigkeit und Deut- lichkeit einer jeden Einbildung mit der Lebhaftigkeit und Deutlichkeit der Empfindung ſtehet, zu welcher ſie gehoͤ- ret. Zuweilen ſind ſie die matteſten Nachbildungen, und enthalten nur einige wenige Zuͤge von der Empfin- dung. Zu einer andern Zeit ſind ſie deutlichere Bilder, und ſo kenntliche Schatten, wie Aeneas in den Eliſaͤi- ſchen Feldern antraf. Oefters beſtehet faſt die ganze Reproduktion mehr in einem Beſtreben, eine ehema- lige Empfindung wieder hervorzuziehen, als daß ſie eine wirklich wiedererweckte Empfindung ſelbſt genennet wer- den koͤnnte. Oft ſind es nur rohe Umzuͤge der Sachen, oft nur eine oder andere Seite; nur eine oder andere Beſchaffenheit, Verhaͤltniß und dergleichen, was bis dahin wieder erneuert wird, daß es wahrgenommen wer- den kann; zuweilen ſind es die ſtaͤrkſten Gemaͤhlde, die den Empfindungen nahe kommen, je nachdem die re- produ- C 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/99
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/99>, abgerufen am 17.05.2024.