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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XII. Versuch. Ueber die Selbstthätigkeit
de bey demselben ausfündig zu machen. Zuweilen se-
hen wir das Gegentheil nur in der Ferne schwach und
dunkel. Jch weiß, ich halte mich die meisten male
nicht lange bey der Untersuchung auf, was für eine Ar-
beit ich etwa vornehmen sollte; ich entschließe mich bald
und doch mit völliger Besinnung. Oft denken wir gar
nicht an das Gegentheil, und haben nicht einmal eine
Vorstellung davon in uns. Es fällt uns solches nicht
einmal ein, wie wir sagen.

Jn dem ersten Fall bestimmen wir uns mit deut-
licher Kücksicht auf das Gegentheil,
und da
zweifeln wir nicht daran, daß wir nicht das Vermögen
hätten, das Gegentheil zu wollen, und daß wir es auch
würden gewollt haben, wenn es uns gefallen hätte. Jn
dem zweyten sehen wir doch auch auf das Gegentheil zu-
rück, aber auf eine schwächere Art. Jn dem letzten Fall
bestimmen wir uns ohne alle Rücksicht auf das Gegen-
theil. Haben wir hier auch noch ein Vermögen ge-
habt, nicht zu wollen, oder das Gegentheil zu wollen?

Erstlich, wenn ich keine Vorstellung von einer
Sache und von einer Aktion in mir habe, wenn keine
Jdee davon in meinem Gedächtniß ist, oder wenn sie
durch meine Kraft nicht entdeckt werden kann, oder
wenn sie dieß nicht kann unter den Umständen, unter de-
nen ich mich gegenwärtig befinde, so besitze ich auch kein
Vermögen, meine Wirksamkeit nach dieser Vorstellung
zu bestimmen, und so etwas zu wollen, und die dazu
gehörige Handlung hervorzubringen. Jetzo, da ich in
meiner Stube sitze, kann ich das nicht beschauen, was
an einem entfernten Orte ausgestellt ist. Dieß
ist eine Gränzlinie, bis wohin uns die Vorstellung nicht
fehlen darf, wenn wir ein Vermögen besitzen sollen,
uns auf sie zu bestimmen.

Dagegen, wenn ich die geflissentlichste Rücksicht
auf das Gegentheil von dem nehme, was ich jetzo will;

wenn

XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
de bey demſelben ausfuͤndig zu machen. Zuweilen ſe-
hen wir das Gegentheil nur in der Ferne ſchwach und
dunkel. Jch weiß, ich halte mich die meiſten male
nicht lange bey der Unterſuchung auf, was fuͤr eine Ar-
beit ich etwa vornehmen ſollte; ich entſchließe mich bald
und doch mit voͤlliger Beſinnung. Oft denken wir gar
nicht an das Gegentheil, und haben nicht einmal eine
Vorſtellung davon in uns. Es faͤllt uns ſolches nicht
einmal ein, wie wir ſagen.

Jn dem erſten Fall beſtimmen wir uns mit deut-
licher Kuͤckſicht auf das Gegentheil,
und da
zweifeln wir nicht daran, daß wir nicht das Vermoͤgen
haͤtten, das Gegentheil zu wollen, und daß wir es auch
wuͤrden gewollt haben, wenn es uns gefallen haͤtte. Jn
dem zweyten ſehen wir doch auch auf das Gegentheil zu-
ruͤck, aber auf eine ſchwaͤchere Art. Jn dem letzten Fall
beſtimmen wir uns ohne alle Ruͤckſicht auf das Gegen-
theil. Haben wir hier auch noch ein Vermoͤgen ge-
habt, nicht zu wollen, oder das Gegentheil zu wollen?

Erſtlich, wenn ich keine Vorſtellung von einer
Sache und von einer Aktion in mir habe, wenn keine
Jdee davon in meinem Gedaͤchtniß iſt, oder wenn ſie
durch meine Kraft nicht entdeckt werden kann, oder
wenn ſie dieß nicht kann unter den Umſtaͤnden, unter de-
nen ich mich gegenwaͤrtig befinde, ſo beſitze ich auch kein
Vermoͤgen, meine Wirkſamkeit nach dieſer Vorſtellung
zu beſtimmen, und ſo etwas zu wollen, und die dazu
gehoͤrige Handlung hervorzubringen. Jetzo, da ich in
meiner Stube ſitze, kann ich das nicht beſchauen, was
an einem entfernten Orte ausgeſtellt iſt. Dieß
iſt eine Graͤnzlinie, bis wohin uns die Vorſtellung nicht
fehlen darf, wenn wir ein Vermoͤgen beſitzen ſollen,
uns auf ſie zu beſtimmen.

Dagegen, wenn ich die gefliſſentlichſte Ruͤckſicht
auf das Gegentheil von dem nehme, was ich jetzo will;

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[108/0138] XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit de bey demſelben ausfuͤndig zu machen. Zuweilen ſe- hen wir das Gegentheil nur in der Ferne ſchwach und dunkel. Jch weiß, ich halte mich die meiſten male nicht lange bey der Unterſuchung auf, was fuͤr eine Ar- beit ich etwa vornehmen ſollte; ich entſchließe mich bald und doch mit voͤlliger Beſinnung. Oft denken wir gar nicht an das Gegentheil, und haben nicht einmal eine Vorſtellung davon in uns. Es faͤllt uns ſolches nicht einmal ein, wie wir ſagen. Jn dem erſten Fall beſtimmen wir uns mit deut- licher Kuͤckſicht auf das Gegentheil, und da zweifeln wir nicht daran, daß wir nicht das Vermoͤgen haͤtten, das Gegentheil zu wollen, und daß wir es auch wuͤrden gewollt haben, wenn es uns gefallen haͤtte. Jn dem zweyten ſehen wir doch auch auf das Gegentheil zu- ruͤck, aber auf eine ſchwaͤchere Art. Jn dem letzten Fall beſtimmen wir uns ohne alle Ruͤckſicht auf das Gegen- theil. Haben wir hier auch noch ein Vermoͤgen ge- habt, nicht zu wollen, oder das Gegentheil zu wollen? Erſtlich, wenn ich keine Vorſtellung von einer Sache und von einer Aktion in mir habe, wenn keine Jdee davon in meinem Gedaͤchtniß iſt, oder wenn ſie durch meine Kraft nicht entdeckt werden kann, oder wenn ſie dieß nicht kann unter den Umſtaͤnden, unter de- nen ich mich gegenwaͤrtig befinde, ſo beſitze ich auch kein Vermoͤgen, meine Wirkſamkeit nach dieſer Vorſtellung zu beſtimmen, und ſo etwas zu wollen, und die dazu gehoͤrige Handlung hervorzubringen. Jetzo, da ich in meiner Stube ſitze, kann ich das nicht beſchauen, was an einem entfernten Orte ausgeſtellt iſt. Dieß iſt eine Graͤnzlinie, bis wohin uns die Vorſtellung nicht fehlen darf, wenn wir ein Vermoͤgen beſitzen ſollen, uns auf ſie zu beſtimmen. Dagegen, wenn ich die gefliſſentlichſte Ruͤckſicht auf das Gegentheil von dem nehme, was ich jetzo will; wenn

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/138>, abgerufen am 30.11.2024.