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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIII. Versuch. Ueber das Seelenwesen

Jch habe gesagt, die Seele sehe sich selbst auf eine
ähnliche Art, wie das Auge sich im Spiegel sieht; aber
wenn das beseelte Auge sich selbst siehet, so ist es doch
unmittelbar nur die äußere Fläche des Auges, die
man nun für den nächsten Gegenstand des Gesichts an-
nehmen kann; und der Gedanke, daß die Sache, oder
das Objekt, das ich sehe, das beseelte Auge eines le-
benden Wesens ist, entsteht durch ein Raisonnement,
wobey wir durch die Kunst des Malers hintergangen
werden können. Folglich siehet das beseelte Auge nie-
mals sich selbst weiter, als an seiner äußerlichen Fläche
und an seinen Bewegungen, aber nicht insofern es be-
seelt ist. Soll also die Seele, die sich selbst fühlt, auf
eine ähnliche Art nur das Gehirn fühlen, so muß es bloß
eine Wirkung des Raisonnements seyn, daß sie sich
selbst zu fühlen glaubt, da sie nichts weiter als die äus-
sern Abdrücke ihrer Thätigkeiten aufs Gehirn unmittel-
telbar vor sich hat. So verhält es sich auch wirklich.
Denn wenn wir unser Jch als das Objekt unsers Ge-
sichts ansehen, so ist außer dem bloßen Gefühl auch ein
Gedanke da, der außer dem simpeln Aktus des Ge-
fühls auch einen Aktus der eigentlichen Denkkraft erfo-
dert, jene Abdrücke im Gehirn als Wirkungen auf die
Seele, als ihre Ursache, beziehet, und dadurch diese
in jenen und durch jene erkennt. *)

Wenn wir die Rückwirkung der Seele auf das mo-
dificirte Gehirn als das wesentliche Stück in dem Aktus
des Fühlens ansehen, woran wir eben nicht Unrecht ha-
ben, so können wir zwar nun das Gefühl, insofern es
in diesem zurückwirkenden Aktus bestehet, der Seele al-
lein mit Ausschließung des Gehirns zuschreiben, und das
modificirte Gehirn als den gefühlten Gegenstand anse-
hen. Und in diesem Verstande ist es weder das Ge-

hirn
*) Vierter Versuch. III.
XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen

Jch habe geſagt, die Seele ſehe ſich ſelbſt auf eine
aͤhnliche Art, wie das Auge ſich im Spiegel ſieht; aber
wenn das beſeelte Auge ſich ſelbſt ſiehet, ſo iſt es doch
unmittelbar nur die aͤußere Flaͤche des Auges, die
man nun fuͤr den naͤchſten Gegenſtand des Geſichts an-
nehmen kann; und der Gedanke, daß die Sache, oder
das Objekt, das ich ſehe, das beſeelte Auge eines le-
benden Weſens iſt, entſteht durch ein Raiſonnement,
wobey wir durch die Kunſt des Malers hintergangen
werden koͤnnen. Folglich ſiehet das beſeelte Auge nie-
mals ſich ſelbſt weiter, als an ſeiner aͤußerlichen Flaͤche
und an ſeinen Bewegungen, aber nicht inſofern es be-
ſeelt iſt. Soll alſo die Seele, die ſich ſelbſt fuͤhlt, auf
eine aͤhnliche Art nur das Gehirn fuͤhlen, ſo muß es bloß
eine Wirkung des Raiſonnements ſeyn, daß ſie ſich
ſelbſt zu fuͤhlen glaubt, da ſie nichts weiter als die aͤuſ-
ſern Abdruͤcke ihrer Thaͤtigkeiten aufs Gehirn unmittel-
telbar vor ſich hat. So verhaͤlt es ſich auch wirklich.
Denn wenn wir unſer Jch als das Objekt unſers Ge-
ſichts anſehen, ſo iſt außer dem bloßen Gefuͤhl auch ein
Gedanke da, der außer dem ſimpeln Aktus des Ge-
fuͤhls auch einen Aktus der eigentlichen Denkkraft erfo-
dert, jene Abdruͤcke im Gehirn als Wirkungen auf die
Seele, als ihre Urſache, beziehet, und dadurch dieſe
in jenen und durch jene erkennt. *)

Wenn wir die Ruͤckwirkung der Seele auf das mo-
dificirte Gehirn als das weſentliche Stuͤck in dem Aktus
des Fuͤhlens anſehen, woran wir eben nicht Unrecht ha-
ben, ſo koͤnnen wir zwar nun das Gefuͤhl, inſofern es
in dieſem zuruͤckwirkenden Aktus beſtehet, der Seele al-
lein mit Ausſchließung des Gehirns zuſchreiben, und das
modificirte Gehirn als den gefuͤhlten Gegenſtand anſe-
hen. Und in dieſem Verſtande iſt es weder das Ge-

hirn
*) Vierter Verſuch. III.
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[172/0202] XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen Jch habe geſagt, die Seele ſehe ſich ſelbſt auf eine aͤhnliche Art, wie das Auge ſich im Spiegel ſieht; aber wenn das beſeelte Auge ſich ſelbſt ſiehet, ſo iſt es doch unmittelbar nur die aͤußere Flaͤche des Auges, die man nun fuͤr den naͤchſten Gegenſtand des Geſichts an- nehmen kann; und der Gedanke, daß die Sache, oder das Objekt, das ich ſehe, das beſeelte Auge eines le- benden Weſens iſt, entſteht durch ein Raiſonnement, wobey wir durch die Kunſt des Malers hintergangen werden koͤnnen. Folglich ſiehet das beſeelte Auge nie- mals ſich ſelbſt weiter, als an ſeiner aͤußerlichen Flaͤche und an ſeinen Bewegungen, aber nicht inſofern es be- ſeelt iſt. Soll alſo die Seele, die ſich ſelbſt fuͤhlt, auf eine aͤhnliche Art nur das Gehirn fuͤhlen, ſo muß es bloß eine Wirkung des Raiſonnements ſeyn, daß ſie ſich ſelbſt zu fuͤhlen glaubt, da ſie nichts weiter als die aͤuſ- ſern Abdruͤcke ihrer Thaͤtigkeiten aufs Gehirn unmittel- telbar vor ſich hat. So verhaͤlt es ſich auch wirklich. Denn wenn wir unſer Jch als das Objekt unſers Ge- ſichts anſehen, ſo iſt außer dem bloßen Gefuͤhl auch ein Gedanke da, der außer dem ſimpeln Aktus des Ge- fuͤhls auch einen Aktus der eigentlichen Denkkraft erfo- dert, jene Abdruͤcke im Gehirn als Wirkungen auf die Seele, als ihre Urſache, beziehet, und dadurch dieſe in jenen und durch jene erkennt. *) Wenn wir die Ruͤckwirkung der Seele auf das mo- dificirte Gehirn als das weſentliche Stuͤck in dem Aktus des Fuͤhlens anſehen, woran wir eben nicht Unrecht ha- ben, ſo koͤnnen wir zwar nun das Gefuͤhl, inſofern es in dieſem zuruͤckwirkenden Aktus beſtehet, der Seele al- lein mit Ausſchließung des Gehirns zuſchreiben, und das modificirte Gehirn als den gefuͤhlten Gegenſtand anſe- hen. Und in dieſem Verſtande iſt es weder das Ge- hirn *) Vierter Verſuch. III.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/202>, abgerufen am 23.11.2024.