gemeine Vernunfttheorie über diese Sache urtheilet, sie durch seine verwirrten Gemeinbegriffe, als durch ge- färbte Gläser, ansiehet; so muß auch dieser darüber erin- nert werden, um zu wissen, woran er sich zu halten habe, wenn ihn seine Scheine verwirren. Es eräugnet sich hier, was sich so oft eräugnet. Nicht sowohl die Ein- sicht der Wahrheit selbst ist schwer, wenn man sie nur erst gerade vor sich hat; aber sie ist mit fremden Gestal- ten und schwankenden Bildern umgeben. Wenn man die Sache in der Nähe ansieht, so findet man das nicht an ihr, was alles in den verwirrten Bildern enthalten war, die man in der Ferne hatte, und wird ungewiß, ob man auch dieselbige Sache sehe. Und wenn man diese nun einmal scharf gefaßt hat, und es auch weis, daß man sie habe, so schweben uns doch die verwirrten Bilder von neuem wieder vor, wenn wir nur ein wenig uns von der Betrachtung entfernen. Alsdenn sieht wieder alles dunkel und neblich aus. Ob die Seele ei- ne immaterielle Substanz sey, oder Materie, wird sich, wie ich meine, leicht begreifen lassen, wenn wir erst recht wissen, wonach wir fragen, und dann nach- her nur nicht wieder dadurch irre werden, daß wir nicht wissen, welche Gestalt und Figur wir ihr beylegen sollen.
Es lehrt die Beobachtung, daß die Seele vielerley, das ist mehrere und verschiedene Vermögen besitze, und vielerley Arten von Veränderungen annehme. Jn ihr, was sie auch ist, giebt es also eine gewisse Mannich- faltigkeit. Kann dergleichen in einer substanziellen Einheit statt finden, oder hat diese Einheit doch eine gewisse ideelle Ausdehnung? Theile, die von ein- ander verschieden sind, und auch außer einander sind, wie die Punkte einer Kugel? und, wenn sie solche hat, wie kann sie denn eine einfache Substanz seyn, die unzertheilbar und unauflöslich ist?
Was
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im Menſchen.
gemeine Vernunfttheorie uͤber dieſe Sache urtheilet, ſie durch ſeine verwirrten Gemeinbegriffe, als durch ge- faͤrbte Glaͤſer, anſiehet; ſo muß auch dieſer daruͤber erin- nert werden, um zu wiſſen, woran er ſich zu halten habe, wenn ihn ſeine Scheine verwirren. Es eraͤugnet ſich hier, was ſich ſo oft eraͤugnet. Nicht ſowohl die Ein- ſicht der Wahrheit ſelbſt iſt ſchwer, wenn man ſie nur erſt gerade vor ſich hat; aber ſie iſt mit fremden Geſtal- ten und ſchwankenden Bildern umgeben. Wenn man die Sache in der Naͤhe anſieht, ſo findet man das nicht an ihr, was alles in den verwirrten Bildern enthalten war, die man in der Ferne hatte, und wird ungewiß, ob man auch dieſelbige Sache ſehe. Und wenn man dieſe nun einmal ſcharf gefaßt hat, und es auch weis, daß man ſie habe, ſo ſchweben uns doch die verwirrten Bilder von neuem wieder vor, wenn wir nur ein wenig uns von der Betrachtung entfernen. Alsdenn ſieht wieder alles dunkel und neblich aus. Ob die Seele ei- ne immaterielle Subſtanz ſey, oder Materie, wird ſich, wie ich meine, leicht begreifen laſſen, wenn wir erſt recht wiſſen, wonach wir fragen, und dann nach- her nur nicht wieder dadurch irre werden, daß wir nicht wiſſen, welche Geſtalt und Figur wir ihr beylegen ſollen.
Es lehrt die Beobachtung, daß die Seele vielerley, das iſt mehrere und verſchiedene Vermoͤgen beſitze, und vielerley Arten von Veraͤnderungen annehme. Jn ihr, was ſie auch iſt, giebt es alſo eine gewiſſe Mannich- faltigkeit. Kann dergleichen in einer ſubſtanziellen Einheit ſtatt finden, oder hat dieſe Einheit doch eine gewiſſe ideelle Ausdehnung? Theile, die von ein- ander verſchieden ſind, und auch außer einander ſind, wie die Punkte einer Kugel? und, wenn ſie ſolche hat, wie kann ſie denn eine einfache Subſtanz ſeyn, die unzertheilbar und unaufloͤslich iſt?
Was
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gemeine Vernunfttheorie uͤber dieſe Sache urtheilet,
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faͤrbte Glaͤſer, anſiehet; ſo muß auch dieſer daruͤber erin-
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habe, wenn ihn ſeine Scheine verwirren. Es eraͤugnet
ſich hier, was ſich ſo oft eraͤugnet. Nicht ſowohl die Ein-
ſicht der Wahrheit ſelbſt iſt ſchwer, wenn man ſie nur
erſt gerade vor ſich hat; aber ſie iſt mit fremden Geſtal-
ten und ſchwankenden Bildern umgeben. Wenn man
die Sache in der Naͤhe anſieht, ſo findet man das nicht
an ihr, was alles in den verwirrten Bildern enthalten
war, die man in der Ferne hatte, und wird ungewiß,
ob man auch dieſelbige Sache ſehe. Und wenn man
dieſe nun einmal ſcharf gefaßt hat, und es auch weis,
daß man ſie habe, ſo ſchweben uns doch die verwirrten
Bilder von neuem wieder vor, wenn wir nur ein wenig
uns von der Betrachtung entfernen. Alsdenn ſieht
wieder alles dunkel und neblich aus. Ob die Seele ei-
ne immaterielle Subſtanz ſey, oder Materie, wird
ſich, wie ich meine, leicht begreifen laſſen, wenn wir
erſt recht wiſſen, wonach wir fragen, und dann nach-
her nur nicht wieder dadurch irre werden, daß wir nicht
wiſſen, welche Geſtalt und Figur wir ihr beylegen
ſollen.
Es lehrt die Beobachtung, daß die Seele vielerley,
das iſt mehrere und verſchiedene Vermoͤgen beſitze, und
vielerley Arten von Veraͤnderungen annehme. Jn ihr,
was ſie auch iſt, giebt es alſo eine gewiſſe Mannich-
faltigkeit. Kann dergleichen in einer ſubſtanziellen
Einheit ſtatt finden, oder hat dieſe Einheit doch eine
gewiſſe ideelle Ausdehnung? Theile, die von ein-
ander verſchieden ſind, und auch außer einander ſind,
wie die Punkte einer Kugel? und, wenn ſie ſolche hat,
wie kann ſie denn eine einfache Subſtanz ſeyn, die
unzertheilbar und unaufloͤslich iſt?
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/215>, abgerufen am 23.11.2024.
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