Was die sogenannte unkörperliche Ausdehnung oder ideelle Extension betrift, die einige Philoso- phen als eine allgemeine Eigenschaft aller Substanzen überhaupt ansehen und glauben solche nothwendig ei- ner jeden zuschreiben zu müssen, so ist es, meiner Mei- nung nach, nicht zu zweifeln, daß solche nicht als ein anpassendes sinnliches Bild von der Mannichfaltig- keit der Beschaffenheiten in einem Dinge sollte gebraucht werden können (multitudo affectionum in vno ente phaenomenon.) Denn wenn wir ein Wesen uns vorstellen, das von einer gewissen Größe ist, und einen Raum einnimmt, worinnen sich Theile und Punkte unterscheiden lassen, auf eine ähnliche Art, wie in einem geometrischen Körper, das ist, in einer in Eins fortgehenden Ausdehnung nach allen Di- mensionen: so ist es klar, daß diese Theile nicht eige- ne, abzusondernde und für sich bestehende Wesen seyn können. Der Geometer theilet seinen Raum durch Flächen, Linien und Punkte; aber die wahre geometri- sche Jdee eines Kontinuums oder einer Ausdehnung; die in Eins fortgehet, bringet es mit sich, daß jede sie durchschneidende Fläche, Linie oder Punkt selbst ein Stück von ihr sey, das sowohl dem einen als dem an- dern der geschnittenen Theile gemeinschaftlich zukommt, und zugleich das Ende des einen und der Anfang des folgenden ist. Also werden dadurch die Theile nicht als besondere Stücke für sich abgeschnitten, wie die Theile der wirklichen Körper. Jene machen nur Ein Ganzes aus. Diesen Unterschied zwischen dem Kon- tinuum und dem sogenannten Diskretum übersah Sextus Empitikus, als er gegen die Geometer dispu- tirte, und ihnen ihre Theilung einer Linie in zween gleich große Theile streitig machen wollte. Wo zwo physi- sche Kugeln einander berühren, da hat doch jede für sich ihren eigenen besondern Umfang, und es giebt alsdenn
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XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Was die ſogenannte unkoͤrperliche Ausdehnung oder ideelle Extenſion betrift, die einige Philoſo- phen als eine allgemeine Eigenſchaft aller Subſtanzen uͤberhaupt anſehen und glauben ſolche nothwendig ei- ner jeden zuſchreiben zu muͤſſen, ſo iſt es, meiner Mei- nung nach, nicht zu zweifeln, daß ſolche nicht als ein anpaſſendes ſinnliches Bild von der Mannichfaltig- keit der Beſchaffenheiten in einem Dinge ſollte gebraucht werden koͤnnen (multitudo affectionum in vno ente phaenomenon.) Denn wenn wir ein Weſen uns vorſtellen, das von einer gewiſſen Groͤße iſt, und einen Raum einnimmt, worinnen ſich Theile und Punkte unterſcheiden laſſen, auf eine aͤhnliche Art, wie in einem geometriſchen Koͤrper, das iſt, in einer in Eins fortgehenden Ausdehnung nach allen Di- menſionen: ſo iſt es klar, daß dieſe Theile nicht eige- ne, abzuſondernde und fuͤr ſich beſtehende Weſen ſeyn koͤnnen. Der Geometer theilet ſeinen Raum durch Flaͤchen, Linien und Punkte; aber die wahre geometri- ſche Jdee eines Kontinuums oder einer Ausdehnung; die in Eins fortgehet, bringet es mit ſich, daß jede ſie durchſchneidende Flaͤche, Linie oder Punkt ſelbſt ein Stuͤck von ihr ſey, das ſowohl dem einen als dem an- dern der geſchnittenen Theile gemeinſchaftlich zukommt, und zugleich das Ende des einen und der Anfang des folgenden iſt. Alſo werden dadurch die Theile nicht als beſondere Stuͤcke fuͤr ſich abgeſchnitten, wie die Theile der wirklichen Koͤrper. Jene machen nur Ein Ganzes aus. Dieſen Unterſchied zwiſchen dem Kon- tinuum und dem ſogenannten Diskretum uͤberſah Sextus Empitikus, als er gegen die Geometer diſpu- tirte, und ihnen ihre Theilung einer Linie in zween gleich große Theile ſtreitig machen wollte. Wo zwo phyſi- ſche Kugeln einander beruͤhren, da hat doch jede fuͤr ſich ihren eigenen beſondern Umfang, und es giebt alsdenn
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XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Was die ſogenannte unkoͤrperliche Ausdehnung
oder ideelle Extenſion betrift, die einige Philoſo-
phen als eine allgemeine Eigenſchaft aller Subſtanzen
uͤberhaupt anſehen und glauben ſolche nothwendig ei-
ner jeden zuſchreiben zu muͤſſen, ſo iſt es, meiner Mei-
nung nach, nicht zu zweifeln, daß ſolche nicht als ein
anpaſſendes ſinnliches Bild von der Mannichfaltig-
keit der Beſchaffenheiten in einem Dinge ſollte
gebraucht werden koͤnnen (multitudo affectionum in
vno ente phaenomenon.) Denn wenn wir ein Weſen
uns vorſtellen, das von einer gewiſſen Groͤße iſt, und
einen Raum einnimmt, worinnen ſich Theile und
Punkte unterſcheiden laſſen, auf eine aͤhnliche Art, wie
in einem geometriſchen Koͤrper, das iſt, in einer in
Eins fortgehenden Ausdehnung nach allen Di-
menſionen: ſo iſt es klar, daß dieſe Theile nicht eige-
ne, abzuſondernde und fuͤr ſich beſtehende Weſen ſeyn
koͤnnen. Der Geometer theilet ſeinen Raum durch
Flaͤchen, Linien und Punkte; aber die wahre geometri-
ſche Jdee eines Kontinuums oder einer Ausdehnung;
die in Eins fortgehet, bringet es mit ſich, daß jede ſie
durchſchneidende Flaͤche, Linie oder Punkt ſelbſt ein
Stuͤck von ihr ſey, das ſowohl dem einen als dem an-
dern der geſchnittenen Theile gemeinſchaftlich zukommt,
und zugleich das Ende des einen und der Anfang des
folgenden iſt. Alſo werden dadurch die Theile nicht
als beſondere Stuͤcke fuͤr ſich abgeſchnitten, wie die
Theile der wirklichen Koͤrper. Jene machen nur Ein
Ganzes aus. Dieſen Unterſchied zwiſchen dem Kon-
tinuum und dem ſogenannten Diskretum uͤberſah
Sextus Empitikus, als er gegen die Geometer diſpu-
tirte, und ihnen ihre Theilung einer Linie in zween gleich
große Theile ſtreitig machen wollte. Wo zwo phyſi-
ſche Kugeln einander beruͤhren, da hat doch jede fuͤr ſich
ihren eigenen beſondern Umfang, und es giebt alsdenn
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/216>, abgerufen am 23.11.2024.
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