Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIII. Versuch. Ueber das Seelenwesen
Verbindung? bringet jene diese, oder diese jene, wie
eine Ursache ihre Wirkung, hervor? Oder ist nichts
mehr als eine harmonische Gesellschaft zwischen ihnen?
Nichts als ein beständiges Zusammentreffen der Einen
mit der andern, wie zwischen zwo Uhren, oder zwischen
zwo Personen, die alle Markttage in Einer Stadt, in
Einem Gasthofe und in Einem Zimmer, zu Einer Ta-
gesstunde, ohne vorhergenommene Abrede, zusammen
kommen?

Und wenn es sich also verhält, ist es denn so, wie
Leibnitz es sich vorstellte? bringet die Seele ihre eige-
nen, und das organisirte Gehirn auch die seinigen, durch
seine eignen Kräfte hervor?

Oder wirket Gott unmittelbar in beiden alles, wie
Malebranche es meinte, nach dem System der durch-
gängigen Assistenz.

Oder wirket Gott nur einige Seelenbeschaffenheiten
unmittelbar, ihre passiven Modifikationen nämlich,
oder ihre Gefühle; und nur einige in dem Körper, die-
jenigen Bewegungen nämlich, welche sonsten der Thä-
tigkeit der Seele zugeschrieben werden? So ist es nach
dem System der gelegentlichen Ursachen oder
der gelegentlichen Assistenz. Gott wirket nämlich
so viel, als zur Erhaltung der allgemeinen Harmonie
erfodert wird. Malebranche entzog der Seele alle
Kraft, alle Selbstthätigkeit, und dem Körper gleichfalls.
Dieß System war von der Leibnitzischen Harmonie nur
allein darinn unterschieden, daß es die wirkende Ursache
in Gott, Leibnitz aber in der Seele und in dem Körper
selbst, setzte. Aber dieß war die Meinung des Des Car-
tes und der Vertheidiger der gelegentlichen Assistenz
nicht; welche letztere Hypothese ganz andere Folgen hat,
als jene, ob sie gleich von einigen Philosophen mit jener
verwechselt worden ist. Denn nach der letztern waren
es nur die passiven Veränderungen, die Gott unmittel-

bar

XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Verbindung? bringet jene dieſe, oder dieſe jene, wie
eine Urſache ihre Wirkung, hervor? Oder iſt nichts
mehr als eine harmoniſche Geſellſchaft zwiſchen ihnen?
Nichts als ein beſtaͤndiges Zuſammentreffen der Einen
mit der andern, wie zwiſchen zwo Uhren, oder zwiſchen
zwo Perſonen, die alle Markttage in Einer Stadt, in
Einem Gaſthofe und in Einem Zimmer, zu Einer Ta-
gesſtunde, ohne vorhergenommene Abrede, zuſammen
kommen?

Und wenn es ſich alſo verhaͤlt, iſt es denn ſo, wie
Leibnitz es ſich vorſtellte? bringet die Seele ihre eige-
nen, und das organiſirte Gehirn auch die ſeinigen, durch
ſeine eignen Kraͤfte hervor?

Oder wirket Gott unmittelbar in beiden alles, wie
Malebranche es meinte, nach dem Syſtem der durch-
gaͤngigen Aſſiſtenz.

Oder wirket Gott nur einige Seelenbeſchaffenheiten
unmittelbar, ihre paſſiven Modifikationen naͤmlich,
oder ihre Gefuͤhle; und nur einige in dem Koͤrper, die-
jenigen Bewegungen naͤmlich, welche ſonſten der Thaͤ-
tigkeit der Seele zugeſchrieben werden? So iſt es nach
dem Syſtem der gelegentlichen Urſachen oder
der gelegentlichen Aſſiſtenz. Gott wirket naͤmlich
ſo viel, als zur Erhaltung der allgemeinen Harmonie
erfodert wird. Malebranche entzog der Seele alle
Kraft, alle Selbſtthaͤtigkeit, und dem Koͤrper gleichfalls.
Dieß Syſtem war von der Leibnitziſchen Harmonie nur
allein darinn unterſchieden, daß es die wirkende Urſache
in Gott, Leibnitz aber in der Seele und in dem Koͤrper
ſelbſt, ſetzte. Aber dieß war die Meinung des Des Car-
tes und der Vertheidiger der gelegentlichen Aſſiſtenz
nicht; welche letztere Hypotheſe ganz andere Folgen hat,
als jene, ob ſie gleich von einigen Philoſophen mit jener
verwechſelt worden iſt. Denn nach der letztern waren
es nur die paſſiven Veraͤnderungen, die Gott unmittel-

bar
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0244" n="214"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIII.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber das Seelenwe&#x017F;en</hi></fw><lb/>
Verbindung? bringet jene die&#x017F;e, oder die&#x017F;e jene, wie<lb/>
eine Ur&#x017F;ache ihre Wirkung, hervor? Oder i&#x017F;t nichts<lb/>
mehr als eine <hi rendition="#fr">harmoni&#x017F;che</hi> Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft zwi&#x017F;chen ihnen?<lb/>
Nichts als ein be&#x017F;ta&#x0364;ndiges Zu&#x017F;ammentreffen der Einen<lb/>
mit der andern, wie zwi&#x017F;chen zwo Uhren, oder zwi&#x017F;chen<lb/>
zwo Per&#x017F;onen, die alle Markttage in Einer Stadt, in<lb/>
Einem Ga&#x017F;thofe und in Einem Zimmer, zu Einer Ta-<lb/>
ges&#x017F;tunde, ohne vorhergenommene Abrede, zu&#x017F;ammen<lb/>
kommen?</p><lb/>
            <p>Und wenn es &#x017F;ich al&#x017F;o verha&#x0364;lt, i&#x017F;t es denn &#x017F;o, wie<lb/>
Leibnitz es &#x017F;ich vor&#x017F;tellte? bringet die Seele ihre eige-<lb/>
nen, und das organi&#x017F;irte Gehirn auch die &#x017F;einigen, durch<lb/>
&#x017F;eine eignen Kra&#x0364;fte hervor?</p><lb/>
            <p>Oder wirket Gott unmittelbar in beiden alles, wie<lb/>
Malebranche es meinte, nach dem Sy&#x017F;tem der durch-<lb/>
ga&#x0364;ngigen A&#x017F;&#x017F;i&#x017F;tenz.</p><lb/>
            <p>Oder wirket Gott nur <hi rendition="#fr">einige</hi> Seelenbe&#x017F;chaffenheiten<lb/>
unmittelbar, ihre <hi rendition="#fr">pa&#x017F;&#x017F;iven</hi> Modifikationen na&#x0364;mlich,<lb/>
oder ihre Gefu&#x0364;hle; und nur <hi rendition="#fr">einige</hi> in dem Ko&#x0364;rper, die-<lb/>
jenigen Bewegungen na&#x0364;mlich, welche &#x017F;on&#x017F;ten der Tha&#x0364;-<lb/>
tigkeit der Seele zuge&#x017F;chrieben werden? So i&#x017F;t es nach<lb/>
dem <hi rendition="#fr">Sy&#x017F;tem der gelegentlichen Ur&#x017F;achen</hi> oder<lb/>
der <hi rendition="#fr">gelegentlichen A&#x017F;&#x017F;i&#x017F;tenz.</hi> Gott wirket na&#x0364;mlich<lb/>
&#x017F;o viel, als zur Erhaltung der allgemeinen Harmonie<lb/>
erfodert wird. Malebranche entzog der Seele alle<lb/>
Kraft, alle Selb&#x017F;ttha&#x0364;tigkeit, und dem Ko&#x0364;rper gleichfalls.<lb/>
Dieß Sy&#x017F;tem war von der Leibnitzi&#x017F;chen Harmonie nur<lb/>
allein darinn unter&#x017F;chieden, daß es die wirkende Ur&#x017F;ache<lb/>
in Gott, Leibnitz aber in der Seele und in dem Ko&#x0364;rper<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t, &#x017F;etzte. Aber dieß war die Meinung des Des Car-<lb/>
tes und der Vertheidiger der gelegentlichen A&#x017F;&#x017F;i&#x017F;tenz<lb/>
nicht; welche letztere Hypothe&#x017F;e ganz andere Folgen hat,<lb/>
als jene, ob &#x017F;ie gleich von einigen Philo&#x017F;ophen mit jener<lb/>
verwech&#x017F;elt worden i&#x017F;t. Denn nach der letztern waren<lb/>
es nur die pa&#x017F;&#x017F;iven Vera&#x0364;nderungen, die Gott unmittel-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">bar</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[214/0244] XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen Verbindung? bringet jene dieſe, oder dieſe jene, wie eine Urſache ihre Wirkung, hervor? Oder iſt nichts mehr als eine harmoniſche Geſellſchaft zwiſchen ihnen? Nichts als ein beſtaͤndiges Zuſammentreffen der Einen mit der andern, wie zwiſchen zwo Uhren, oder zwiſchen zwo Perſonen, die alle Markttage in Einer Stadt, in Einem Gaſthofe und in Einem Zimmer, zu Einer Ta- gesſtunde, ohne vorhergenommene Abrede, zuſammen kommen? Und wenn es ſich alſo verhaͤlt, iſt es denn ſo, wie Leibnitz es ſich vorſtellte? bringet die Seele ihre eige- nen, und das organiſirte Gehirn auch die ſeinigen, durch ſeine eignen Kraͤfte hervor? Oder wirket Gott unmittelbar in beiden alles, wie Malebranche es meinte, nach dem Syſtem der durch- gaͤngigen Aſſiſtenz. Oder wirket Gott nur einige Seelenbeſchaffenheiten unmittelbar, ihre paſſiven Modifikationen naͤmlich, oder ihre Gefuͤhle; und nur einige in dem Koͤrper, die- jenigen Bewegungen naͤmlich, welche ſonſten der Thaͤ- tigkeit der Seele zugeſchrieben werden? So iſt es nach dem Syſtem der gelegentlichen Urſachen oder der gelegentlichen Aſſiſtenz. Gott wirket naͤmlich ſo viel, als zur Erhaltung der allgemeinen Harmonie erfodert wird. Malebranche entzog der Seele alle Kraft, alle Selbſtthaͤtigkeit, und dem Koͤrper gleichfalls. Dieß Syſtem war von der Leibnitziſchen Harmonie nur allein darinn unterſchieden, daß es die wirkende Urſache in Gott, Leibnitz aber in der Seele und in dem Koͤrper ſelbſt, ſetzte. Aber dieß war die Meinung des Des Car- tes und der Vertheidiger der gelegentlichen Aſſiſtenz nicht; welche letztere Hypotheſe ganz andere Folgen hat, als jene, ob ſie gleich von einigen Philoſophen mit jener verwechſelt worden iſt. Denn nach der letztern waren es nur die paſſiven Veraͤnderungen, die Gott unmittel- bar

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/244
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/244>, abgerufen am 23.11.2024.