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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIII. Versuch. Ueber das Seelenwesen
ausschließen. Dagegen haben die übrigen Systeme
nichts für sich, als bloß ihre innere Möglichkeit, die
wenigstens bisher noch nicht widerlegt worden ist. Aber
wie viel bedeuten Hypothesen und Meinungen von der
Einrichtung der Natur, die nichts weiter für sich haben,
als daß vielleicht die Sache so seyn könne, wie man
sich sie vorstellet, ohne daß nähere Anzeigen vorhanden
sind, welche ihnen eine Wahrscheinlichkeit geben? Mei-
ne Absicht ist hier nur, die Beziehung zu bemerken, in
der diese sogenannten psychologischen Systeme mit einer
andern Untersuchung über den Sitz der Vorstellun-
gen
stehen, die unter den Philosophen nicht so alt ist,
daß sie nicht noch etwas von dem Glanze der Neuheit an
sich habe, und noch weniger von allen ihren Seiten
bisher erwogen ist.

Jst nämlich die Leibnitzische Harmonie oder die As-
sistenz das wahre System, so fällt die Frage: in wel-
chem Theile unserer ganzen Seelenwesen sich die Vor-
stellungen
befinden, das ist, die wiedererweckbaren
Spuren ehemaliger Empfindungen, von selbst weg.
Nach Leibnitz, Malebranche und Des Cartes verstehet es
sich von selbst, daß die Vorstellungen sowohl als die
Empfindungen Seelenbeschaffenheiten sind, und in
der Seele, als in ihrem Subjekt, ihren Sitz haben.
Denn nicht nur die Modifikation, welche die Empfin-
dung ausmacht, ist in der Seele, sondern hier ist es
auch, wo die Spur davon zurückbleibet, und wieder
erwecket wird. Nun bleibt es zwar noch unbestimmt, ob
nicht auch in dem Gehirn sich etwas ähnliches eräugne; ob
nicht die Veränderung in der organisirten Masse, wel-
che in der Empfindung entstehet, auch in dem Organ
eine Spur hinterlasse, welche durch körperliche Ursachen,
sie mögen in dem Gehirn selbst seyn, oder von außen
auf dasselbige wirken, wieder erneuert werden könne?
oder ob das Gehirn wie ein flüssiges Wesen sich ver-

hält,

XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
ausſchließen. Dagegen haben die uͤbrigen Syſteme
nichts fuͤr ſich, als bloß ihre innere Moͤglichkeit, die
wenigſtens bisher noch nicht widerlegt worden iſt. Aber
wie viel bedeuten Hypotheſen und Meinungen von der
Einrichtung der Natur, die nichts weiter fuͤr ſich haben,
als daß vielleicht die Sache ſo ſeyn koͤnne, wie man
ſich ſie vorſtellet, ohne daß naͤhere Anzeigen vorhanden
ſind, welche ihnen eine Wahrſcheinlichkeit geben? Mei-
ne Abſicht iſt hier nur, die Beziehung zu bemerken, in
der dieſe ſogenannten pſychologiſchen Syſteme mit einer
andern Unterſuchung uͤber den Sitz der Vorſtellun-
gen
ſtehen, die unter den Philoſophen nicht ſo alt iſt,
daß ſie nicht noch etwas von dem Glanze der Neuheit an
ſich habe, und noch weniger von allen ihren Seiten
bisher erwogen iſt.

Jſt naͤmlich die Leibnitziſche Harmonie oder die Aſ-
ſiſtenz das wahre Syſtem, ſo faͤllt die Frage: in wel-
chem Theile unſerer ganzen Seelenweſen ſich die Vor-
ſtellungen
befinden, das iſt, die wiedererweckbaren
Spuren ehemaliger Empfindungen, von ſelbſt weg.
Nach Leibnitz, Malebranche und Des Cartes verſtehet es
ſich von ſelbſt, daß die Vorſtellungen ſowohl als die
Empfindungen Seelenbeſchaffenheiten ſind, und in
der Seele, als in ihrem Subjekt, ihren Sitz haben.
Denn nicht nur die Modifikation, welche die Empfin-
dung ausmacht, iſt in der Seele, ſondern hier iſt es
auch, wo die Spur davon zuruͤckbleibet, und wieder
erwecket wird. Nun bleibt es zwar noch unbeſtimmt, ob
nicht auch in dem Gehirn ſich etwas aͤhnliches eraͤugne; ob
nicht die Veraͤnderung in der organiſirten Maſſe, wel-
che in der Empfindung entſtehet, auch in dem Organ
eine Spur hinterlaſſe, welche durch koͤrperliche Urſachen,
ſie moͤgen in dem Gehirn ſelbſt ſeyn, oder von außen
auf daſſelbige wirken, wieder erneuert werden koͤnne?
oder ob das Gehirn wie ein fluͤſſiges Weſen ſich ver-

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[216/0246] XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen ausſchließen. Dagegen haben die uͤbrigen Syſteme nichts fuͤr ſich, als bloß ihre innere Moͤglichkeit, die wenigſtens bisher noch nicht widerlegt worden iſt. Aber wie viel bedeuten Hypotheſen und Meinungen von der Einrichtung der Natur, die nichts weiter fuͤr ſich haben, als daß vielleicht die Sache ſo ſeyn koͤnne, wie man ſich ſie vorſtellet, ohne daß naͤhere Anzeigen vorhanden ſind, welche ihnen eine Wahrſcheinlichkeit geben? Mei- ne Abſicht iſt hier nur, die Beziehung zu bemerken, in der dieſe ſogenannten pſychologiſchen Syſteme mit einer andern Unterſuchung uͤber den Sitz der Vorſtellun- gen ſtehen, die unter den Philoſophen nicht ſo alt iſt, daß ſie nicht noch etwas von dem Glanze der Neuheit an ſich habe, und noch weniger von allen ihren Seiten bisher erwogen iſt. Jſt naͤmlich die Leibnitziſche Harmonie oder die Aſ- ſiſtenz das wahre Syſtem, ſo faͤllt die Frage: in wel- chem Theile unſerer ganzen Seelenweſen ſich die Vor- ſtellungen befinden, das iſt, die wiedererweckbaren Spuren ehemaliger Empfindungen, von ſelbſt weg. Nach Leibnitz, Malebranche und Des Cartes verſtehet es ſich von ſelbſt, daß die Vorſtellungen ſowohl als die Empfindungen Seelenbeſchaffenheiten ſind, und in der Seele, als in ihrem Subjekt, ihren Sitz haben. Denn nicht nur die Modifikation, welche die Empfin- dung ausmacht, iſt in der Seele, ſondern hier iſt es auch, wo die Spur davon zuruͤckbleibet, und wieder erwecket wird. Nun bleibt es zwar noch unbeſtimmt, ob nicht auch in dem Gehirn ſich etwas aͤhnliches eraͤugne; ob nicht die Veraͤnderung in der organiſirten Maſſe, wel- che in der Empfindung entſtehet, auch in dem Organ eine Spur hinterlaſſe, welche durch koͤrperliche Urſachen, ſie moͤgen in dem Gehirn ſelbſt ſeyn, oder von außen auf daſſelbige wirken, wieder erneuert werden koͤnne? oder ob das Gehirn wie ein fluͤſſiges Weſen ſich ver- haͤlt,

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/246>, abgerufen am 23.11.2024.