sich da aus den Empfindungen her schon festgesetzt hat- ten? Können sie dieß nicht, warum werden denn so viele Jdeen durch Zufälle entzogen, oder unerweckbar gemacht?
Vielleicht hat die körperliche Ursache die Fibern des Gehirns erschlaffet oder erstarret, daß es ihnen nun an der nöthigen Festigkeit oder Beugsamkeit fehlet, die in- nern Eindrücke von der Seele her anzunehmen. Jch würde dieß antworten. Und dann ist es zugleich be- greiflich, warum die Seele, ob sie gleich ihre intel- lektuellen Jdeen wieder hervorziehet, sich auf nichts be- sinnen könne. Denn wenn sie diese letztern in sich wie- der erneuert: so thut sie das, was ein Spieler thut, wenn er mit seinen Fingern auf die Klaves hin und her fährt, wie er es sonsten macht, wenn er spielet. Es erfolget dennoch kein Ton, wenn die Saiten des Jn- struments geschlaffet oder zersprungen sind. Auf gleiche Weise könnte die intellektuelle Jdee wieder hervorkom- men; aber wenn die dazu gehörige Gehirnsveränderung nicht vorhanden ist: so ist es auch nicht möglich, daß die Seele ihre wiedererweckte Vorstellung empfinden, und von ihr wissen könne, daß sie in ihr sey. Denn ein Gefühl von einer gegenwärtigen Vorstellung erfo- dert allemal eine gegenwärtige Gehirnsbewegung, auf welche die Seele zurückwirket, indem sie die dazu gehö- rige Vorstellung fühlet.
Genüget diese Antwort? Menschen, deren Ge- dächtniß in hitzigen Krankheiten vergangen ist, haben eigentlich am meisten an dem Jdeenvorrath gelitten, nicht so sehr an dem Gedächtniß selbst, als Vermögen betrachtet, obgleich allerdings auch an dem letztern, zu- weilen mehr, zuweilen weniger. Sonsten findet sich, wenn sie wiederum gesund sind, daß ihr Gedächtniß auch seine Dienste wiederum leistet, Modifikationen aufbewahrt und reproducirt. Dieß scheinet zu beweisen,
daß
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im Menſchen.
ſich da aus den Empfindungen her ſchon feſtgeſetzt hat- ten? Koͤnnen ſie dieß nicht, warum werden denn ſo viele Jdeen durch Zufaͤlle entzogen, oder unerweckbar gemacht?
Vielleicht hat die koͤrperliche Urſache die Fibern des Gehirns erſchlaffet oder erſtarret, daß es ihnen nun an der noͤthigen Feſtigkeit oder Beugſamkeit fehlet, die in- nern Eindruͤcke von der Seele her anzunehmen. Jch wuͤrde dieß antworten. Und dann iſt es zugleich be- greiflich, warum die Seele, ob ſie gleich ihre intel- lektuellen Jdeen wieder hervorziehet, ſich auf nichts be- ſinnen koͤnne. Denn wenn ſie dieſe letztern in ſich wie- der erneuert: ſo thut ſie das, was ein Spieler thut, wenn er mit ſeinen Fingern auf die Klaves hin und her faͤhrt, wie er es ſonſten macht, wenn er ſpielet. Es erfolget dennoch kein Ton, wenn die Saiten des Jn- ſtruments geſchlaffet oder zerſprungen ſind. Auf gleiche Weiſe koͤnnte die intellektuelle Jdee wieder hervorkom- men; aber wenn die dazu gehoͤrige Gehirnsveraͤnderung nicht vorhanden iſt: ſo iſt es auch nicht moͤglich, daß die Seele ihre wiedererweckte Vorſtellung empfinden, und von ihr wiſſen koͤnne, daß ſie in ihr ſey. Denn ein Gefuͤhl von einer gegenwaͤrtigen Vorſtellung erfo- dert allemal eine gegenwaͤrtige Gehirnsbewegung, auf welche die Seele zuruͤckwirket, indem ſie die dazu gehoͤ- rige Vorſtellung fuͤhlet.
Genuͤget dieſe Antwort? Menſchen, deren Ge- daͤchtniß in hitzigen Krankheiten vergangen iſt, haben eigentlich am meiſten an dem Jdeenvorrath gelitten, nicht ſo ſehr an dem Gedaͤchtniß ſelbſt, als Vermoͤgen betrachtet, obgleich allerdings auch an dem letztern, zu- weilen mehr, zuweilen weniger. Sonſten findet ſich, wenn ſie wiederum geſund ſind, daß ihr Gedaͤchtniß auch ſeine Dienſte wiederum leiſtet, Modifikationen aufbewahrt und reproducirt. Dieß ſcheinet zu beweiſen,
daß
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im Menſchen.
ſich da aus den Empfindungen her ſchon feſtgeſetzt hat-
ten? Koͤnnen ſie dieß nicht, warum werden denn ſo
viele Jdeen durch Zufaͤlle entzogen, oder unerweckbar
gemacht?
Vielleicht hat die koͤrperliche Urſache die Fibern des
Gehirns erſchlaffet oder erſtarret, daß es ihnen nun an
der noͤthigen Feſtigkeit oder Beugſamkeit fehlet, die in-
nern Eindruͤcke von der Seele her anzunehmen. Jch
wuͤrde dieß antworten. Und dann iſt es zugleich be-
greiflich, warum die Seele, ob ſie gleich ihre intel-
lektuellen Jdeen wieder hervorziehet, ſich auf nichts be-
ſinnen koͤnne. Denn wenn ſie dieſe letztern in ſich wie-
der erneuert: ſo thut ſie das, was ein Spieler thut,
wenn er mit ſeinen Fingern auf die Klaves hin und her
faͤhrt, wie er es ſonſten macht, wenn er ſpielet. Es
erfolget dennoch kein Ton, wenn die Saiten des Jn-
ſtruments geſchlaffet oder zerſprungen ſind. Auf gleiche
Weiſe koͤnnte die intellektuelle Jdee wieder hervorkom-
men; aber wenn die dazu gehoͤrige Gehirnsveraͤnderung
nicht vorhanden iſt: ſo iſt es auch nicht moͤglich, daß
die Seele ihre wiedererweckte Vorſtellung empfinden,
und von ihr wiſſen koͤnne, daß ſie in ihr ſey. Denn
ein Gefuͤhl von einer gegenwaͤrtigen Vorſtellung erfo-
dert allemal eine gegenwaͤrtige Gehirnsbewegung, auf
welche die Seele zuruͤckwirket, indem ſie die dazu gehoͤ-
rige Vorſtellung fuͤhlet.
Genuͤget dieſe Antwort? Menſchen, deren Ge-
daͤchtniß in hitzigen Krankheiten vergangen iſt, haben
eigentlich am meiſten an dem Jdeenvorrath gelitten,
nicht ſo ſehr an dem Gedaͤchtniß ſelbſt, als Vermoͤgen
betrachtet, obgleich allerdings auch an dem letztern, zu-
weilen mehr, zuweilen weniger. Sonſten findet ſich,
wenn ſie wiederum geſund ſind, daß ihr Gedaͤchtniß
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/261>, abgerufen am 24.11.2024.
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