im Anfang von ihr gelenket worden sind, ehe die Ge- wohnheit so zu handeln sich befestiget hatte. Bey dem Menschen, sage ich, verhält es sich so, wie die Erfah- rung lehret. Das hungrige Kind sauget an dem Zucker, den man ihm in den Mund stecket; aber es wird an ei- nem Steine nagen, wenn man ihm diesen hingiebt. Wenn es aber in der Folge nach dem Zucker und nicht nach dem Steine greift: so rührt dieß nicht daher, weil sein Naturtrieb für sich auf jenes Objekt gestimmt ist, son- dern daher, weil eine Vorstellung der Seele, die es aus seinen vorigen Empfindungen erlanget hat, es dahin lenket.
Es ist außer Zweifel, je genauer der Natur- trieb zu gewissen Arten von Thätigkeiten bestimmt ist, desto mehr ist er auch zugleich auf die ihm angemes- senen Gegenstände gerichtet; wie ein Körper, der nach einer geraden Linie mit großer Heftigkeit fortgeht, nur auf das Objekt trift, das ihm in dieser einzigen Rich- tung vorlieget, nicht auf andere. Die Dinge, auf welche die Kraft nicht wirken kann, stoßen sie zurück, und desto mehr, je weniger schicklich sie für sie sind; und eben dadurch führen sie selbige auf die schicklichen Objekte hin. Dieß ist ein Grundsatz, der es zum Theil wenig- stens begreiflich macht, wie die Jnstinkte der Thiere ihre Gegenstände so richtig treffen können, auch ohne daß eine Vorstellung sie leite. Was bey dem Men- schen Begierde ist, oder ein Bestreben auf ein vor- gestelltes Objekt zu wirken, das ist bey den Thieren oft nur ein blinder Trieb, der nicht sowohl auf den Ge- genstand gerichtet ist, als nur auf eine gewisse Art der Thätigkeit, und nur darum auf das gehörige Objekt trift, weil dieß es allein ist, was seinen Trieb befriedi- gen kann. Das Kind kennet die Speise nicht, die ihm gesund ist, und würde den Arsenik so gut in den Mund nehmen, als Zucker; aber der Hund, bey dem der Ge-
ruch
XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
im Anfang von ihr gelenket worden ſind, ehe die Ge- wohnheit ſo zu handeln ſich befeſtiget hatte. Bey dem Menſchen, ſage ich, verhaͤlt es ſich ſo, wie die Erfah- rung lehret. Das hungrige Kind ſauget an dem Zucker, den man ihm in den Mund ſtecket; aber es wird an ei- nem Steine nagen, wenn man ihm dieſen hingiebt. Wenn es aber in der Folge nach dem Zucker und nicht nach dem Steine greift: ſo ruͤhrt dieß nicht daher, weil ſein Naturtrieb fuͤr ſich auf jenes Objekt geſtimmt iſt, ſon- dern daher, weil eine Vorſtellung der Seele, die es aus ſeinen vorigen Empfindungen erlanget hat, es dahin lenket.
Es iſt außer Zweifel, je genauer der Natur- trieb zu gewiſſen Arten von Thaͤtigkeiten beſtimmt iſt, deſto mehr iſt er auch zugleich auf die ihm angemeſ- ſenen Gegenſtaͤnde gerichtet; wie ein Koͤrper, der nach einer geraden Linie mit großer Heftigkeit fortgeht, nur auf das Objekt trift, das ihm in dieſer einzigen Rich- tung vorlieget, nicht auf andere. Die Dinge, auf welche die Kraft nicht wirken kann, ſtoßen ſie zuruͤck, und deſto mehr, je weniger ſchicklich ſie fuͤr ſie ſind; und eben dadurch fuͤhren ſie ſelbige auf die ſchicklichen Objekte hin. Dieß iſt ein Grundſatz, der es zum Theil wenig- ſtens begreiflich macht, wie die Jnſtinkte der Thiere ihre Gegenſtaͤnde ſo richtig treffen koͤnnen, auch ohne daß eine Vorſtellung ſie leite. Was bey dem Men- ſchen Begierde iſt, oder ein Beſtreben auf ein vor- geſtelltes Objekt zu wirken, das iſt bey den Thieren oft nur ein blinder Trieb, der nicht ſowohl auf den Ge- genſtand gerichtet iſt, als nur auf eine gewiſſe Art der Thaͤtigkeit, und nur darum auf das gehoͤrige Objekt trift, weil dieß es allein iſt, was ſeinen Trieb befriedi- gen kann. Das Kind kennet die Speiſe nicht, die ihm geſund iſt, und wuͤrde den Arſenik ſo gut in den Mund nehmen, als Zucker; aber der Hund, bey dem der Ge-
ruch
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0356"n="326"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">XIII.</hi> Verſuch. Ueber das Seelenweſen</hi></fw><lb/>
im Anfang von ihr gelenket worden ſind, ehe die Ge-<lb/>
wohnheit ſo zu handeln ſich befeſtiget hatte. Bey dem<lb/>
Menſchen, ſage ich, verhaͤlt es ſich ſo, wie die Erfah-<lb/>
rung lehret. Das hungrige Kind ſauget an dem Zucker,<lb/>
den man ihm in den Mund ſtecket; aber es wird an ei-<lb/>
nem Steine nagen, wenn man ihm dieſen hingiebt.<lb/>
Wenn es aber in der Folge nach dem Zucker und nicht<lb/>
nach dem Steine greift: ſo ruͤhrt dieß nicht daher, weil ſein<lb/>
Naturtrieb fuͤr ſich auf jenes Objekt geſtimmt iſt, ſon-<lb/>
dern daher, weil eine Vorſtellung der Seele, die es aus<lb/>ſeinen vorigen Empfindungen erlanget hat, es dahin<lb/>
lenket.</p><lb/><p>Es iſt außer Zweifel, je <hirendition="#fr">genauer</hi> der Natur-<lb/>
trieb zu gewiſſen <hirendition="#fr">Arten</hi> von Thaͤtigkeiten beſtimmt<lb/>
iſt, deſto mehr iſt er auch zugleich auf die ihm angemeſ-<lb/>ſenen Gegenſtaͤnde gerichtet; wie ein Koͤrper, der nach<lb/>
einer geraden Linie mit großer Heftigkeit fortgeht, nur<lb/>
auf das Objekt trift, das ihm in dieſer einzigen Rich-<lb/>
tung vorlieget, nicht auf andere. Die Dinge, auf<lb/>
welche die Kraft nicht wirken kann, ſtoßen ſie zuruͤck,<lb/>
und deſto mehr, je weniger ſchicklich ſie fuͤr ſie ſind; und<lb/>
eben dadurch fuͤhren ſie ſelbige auf die ſchicklichen Objekte<lb/>
hin. Dieß iſt ein Grundſatz, der es zum Theil wenig-<lb/>ſtens begreiflich macht, wie die Jnſtinkte der Thiere<lb/>
ihre Gegenſtaͤnde ſo richtig treffen koͤnnen, auch ohne<lb/>
daß eine Vorſtellung ſie leite. Was bey dem Men-<lb/>ſchen <hirendition="#fr">Begierde</hi> iſt, oder ein Beſtreben auf ein <hirendition="#fr">vor-<lb/>
geſtelltes</hi> Objekt zu wirken, das iſt bey den Thieren<lb/>
oft nur ein blinder Trieb, der nicht ſowohl auf den Ge-<lb/>
genſtand gerichtet iſt, als nur auf eine gewiſſe Art der<lb/>
Thaͤtigkeit, und nur darum auf das gehoͤrige Objekt<lb/>
trift, weil dieß es allein iſt, was ſeinen Trieb befriedi-<lb/>
gen kann. Das Kind kennet die Speiſe nicht, die ihm<lb/>
geſund iſt, und wuͤrde den Arſenik ſo gut in den Mund<lb/>
nehmen, als Zucker; aber der Hund, bey dem der Ge-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ruch</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[326/0356]
XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
im Anfang von ihr gelenket worden ſind, ehe die Ge-
wohnheit ſo zu handeln ſich befeſtiget hatte. Bey dem
Menſchen, ſage ich, verhaͤlt es ſich ſo, wie die Erfah-
rung lehret. Das hungrige Kind ſauget an dem Zucker,
den man ihm in den Mund ſtecket; aber es wird an ei-
nem Steine nagen, wenn man ihm dieſen hingiebt.
Wenn es aber in der Folge nach dem Zucker und nicht
nach dem Steine greift: ſo ruͤhrt dieß nicht daher, weil ſein
Naturtrieb fuͤr ſich auf jenes Objekt geſtimmt iſt, ſon-
dern daher, weil eine Vorſtellung der Seele, die es aus
ſeinen vorigen Empfindungen erlanget hat, es dahin
lenket.
Es iſt außer Zweifel, je genauer der Natur-
trieb zu gewiſſen Arten von Thaͤtigkeiten beſtimmt
iſt, deſto mehr iſt er auch zugleich auf die ihm angemeſ-
ſenen Gegenſtaͤnde gerichtet; wie ein Koͤrper, der nach
einer geraden Linie mit großer Heftigkeit fortgeht, nur
auf das Objekt trift, das ihm in dieſer einzigen Rich-
tung vorlieget, nicht auf andere. Die Dinge, auf
welche die Kraft nicht wirken kann, ſtoßen ſie zuruͤck,
und deſto mehr, je weniger ſchicklich ſie fuͤr ſie ſind; und
eben dadurch fuͤhren ſie ſelbige auf die ſchicklichen Objekte
hin. Dieß iſt ein Grundſatz, der es zum Theil wenig-
ſtens begreiflich macht, wie die Jnſtinkte der Thiere
ihre Gegenſtaͤnde ſo richtig treffen koͤnnen, auch ohne
daß eine Vorſtellung ſie leite. Was bey dem Men-
ſchen Begierde iſt, oder ein Beſtreben auf ein vor-
geſtelltes Objekt zu wirken, das iſt bey den Thieren
oft nur ein blinder Trieb, der nicht ſowohl auf den Ge-
genſtand gerichtet iſt, als nur auf eine gewiſſe Art der
Thaͤtigkeit, und nur darum auf das gehoͤrige Objekt
trift, weil dieß es allein iſt, was ſeinen Trieb befriedi-
gen kann. Das Kind kennet die Speiſe nicht, die ihm
geſund iſt, und wuͤrde den Arſenik ſo gut in den Mund
nehmen, als Zucker; aber der Hund, bey dem der Ge-
ruch
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/356>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.