"ihr Wollen die Stelle der organischen Kraft in dem "Körper vertreten, und dieselbigen Bewegungen her- "vorbringen könne, wenn die Körperkraft dazu nicht "vorhanden, oder nicht wirksam genug ist?" so lehret eine Menge von Erfahrungen es überzeugend, daß man daran nicht zweifeln könne. Die Macht der Einbil- dungskraft über den Körper, am meisten bey empfind- lichen, bey hypochondrischen und hysterischen Personen, und andern, bey denen das Nervensystem in Unord- nung und die Phantasie allzu lebhaft ist, erstrecket sich in der That so weit, daß sie Wirkungen in dem Ner- vensystem und dadurch in dem Körper darstellet, die son- sten nur von körperlichen Ursachen zu entstehen pflegen. Jndessen verdienet doch auch hiebey die Anmerkung nicht übergangen zu werden, daß ein großer Theil der Beyspiele, die man als Beweise gemeiniglich dafür an- führet, wenn man sie genauer betrachtet, die Sache nicht außer Zweifel setzen. Es ist wohl zu unterschei- den, ob die Einbildungskraft und das Wollen der Seele die wahre bewegende Ursache sey, die als physische Kör- perkraft wirket, oder ob die Einbildung nur die Aktion der reizenden Körperkräfte begleite; und ob es nicht der gewöhnliche Mißgriff der Ursachen sey, wenn der letztern das zugeschrieben wird, das in der That einer andern Ursache, die in dem Körper selbst lieget, zukommt? Ein wollüstiger Jüngling hat im Traum Phantasien, die bey ihm ähnliche Ausleerungen verursachen wie die ähnlichen Empfindungen bey dem Wachenden. Einem an- dern traumet eine Purganz eingenommen zu haben, und diese Vorstellung thut ihre Wirkung, als wenn es wirk- lich geschehen wäre. Jch habe es oben schon erinnert, daß in solchen Fällen wohl ein innerer Reiz in dem Kör- per vorhanden seyn möge, der organisch die Theile des Körpers auf eine ähnliche Art in Bewegung setzt, wie der gewöhnliche sinnliche Eindruck, dessen Gegenwart
man
XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
„ihr Wollen die Stelle der organiſchen Kraft in dem „Koͤrper vertreten, und dieſelbigen Bewegungen her- „vorbringen koͤnne, wenn die Koͤrperkraft dazu nicht „vorhanden, oder nicht wirkſam genug iſt?“ ſo lehret eine Menge von Erfahrungen es uͤberzeugend, daß man daran nicht zweifeln koͤnne. Die Macht der Einbil- dungskraft uͤber den Koͤrper, am meiſten bey empfind- lichen, bey hypochondriſchen und hyſteriſchen Perſonen, und andern, bey denen das Nervenſyſtem in Unord- nung und die Phantaſie allzu lebhaft iſt, erſtrecket ſich in der That ſo weit, daß ſie Wirkungen in dem Ner- venſyſtem und dadurch in dem Koͤrper darſtellet, die ſon- ſten nur von koͤrperlichen Urſachen zu entſtehen pflegen. Jndeſſen verdienet doch auch hiebey die Anmerkung nicht uͤbergangen zu werden, daß ein großer Theil der Beyſpiele, die man als Beweiſe gemeiniglich dafuͤr an- fuͤhret, wenn man ſie genauer betrachtet, die Sache nicht außer Zweifel ſetzen. Es iſt wohl zu unterſchei- den, ob die Einbildungskraft und das Wollen der Seele die wahre bewegende Urſache ſey, die als phyſiſche Koͤr- perkraft wirket, oder ob die Einbildung nur die Aktion der reizenden Koͤrperkraͤfte begleite; und ob es nicht der gewoͤhnliche Mißgriff der Urſachen ſey, wenn der letztern das zugeſchrieben wird, das in der That einer andern Urſache, die in dem Koͤrper ſelbſt lieget, zukommt? Ein wolluͤſtiger Juͤngling hat im Traum Phantaſien, die bey ihm aͤhnliche Ausleerungen verurſachen wie die aͤhnlichen Empfindungen bey dem Wachenden. Einem an- dern traumet eine Purganz eingenommen zu haben, und dieſe Vorſtellung thut ihre Wirkung, als wenn es wirk- lich geſchehen waͤre. Jch habe es oben ſchon erinnert, daß in ſolchen Faͤllen wohl ein innerer Reiz in dem Koͤr- per vorhanden ſeyn moͤge, der organiſch die Theile des Koͤrpers auf eine aͤhnliche Art in Bewegung ſetzt, wie der gewoͤhnliche ſinnliche Eindruck, deſſen Gegenwart
man
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XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
„ihr Wollen die Stelle der organiſchen Kraft in dem
„Koͤrper vertreten, und dieſelbigen Bewegungen her-
„vorbringen koͤnne, wenn die Koͤrperkraft dazu nicht
„vorhanden, oder nicht wirkſam genug iſt?“ ſo lehret
eine Menge von Erfahrungen es uͤberzeugend, daß man
daran nicht zweifeln koͤnne. Die Macht der Einbil-
dungskraft uͤber den Koͤrper, am meiſten bey empfind-
lichen, bey hypochondriſchen und hyſteriſchen Perſonen,
und andern, bey denen das Nervenſyſtem in Unord-
nung und die Phantaſie allzu lebhaft iſt, erſtrecket ſich
in der That ſo weit, daß ſie Wirkungen in dem Ner-
venſyſtem und dadurch in dem Koͤrper darſtellet, die ſon-
ſten nur von koͤrperlichen Urſachen zu entſtehen pflegen.
Jndeſſen verdienet doch auch hiebey die Anmerkung
nicht uͤbergangen zu werden, daß ein großer Theil der
Beyſpiele, die man als Beweiſe gemeiniglich dafuͤr an-
fuͤhret, wenn man ſie genauer betrachtet, die Sache
nicht außer Zweifel ſetzen. Es iſt wohl zu unterſchei-
den, ob die Einbildungskraft und das Wollen der Seele
die wahre bewegende Urſache ſey, die als phyſiſche Koͤr-
perkraft wirket, oder ob die Einbildung nur die Aktion
der reizenden Koͤrperkraͤfte begleite; und ob es nicht der
gewoͤhnliche Mißgriff der Urſachen ſey, wenn der letztern
das zugeſchrieben wird, das in der That einer andern
Urſache, die in dem Koͤrper ſelbſt lieget, zukommt?
Ein wolluͤſtiger Juͤngling hat im Traum Phantaſien,
die bey ihm aͤhnliche Ausleerungen verurſachen wie die
aͤhnlichen Empfindungen bey dem Wachenden. Einem an-
dern traumet eine Purganz eingenommen zu haben, und
dieſe Vorſtellung thut ihre Wirkung, als wenn es wirk-
lich geſchehen waͤre. Jch habe es oben ſchon erinnert,
daß in ſolchen Faͤllen wohl ein innerer Reiz in dem Koͤr-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/364>, abgerufen am 16.07.2024.
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