Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
Kräfte der einfachen Seele seyn, oder von der Organi-
sation des Gehirns abhangen; man darf hier den Men-
schen nur nehmen, wie er Mensch ist. Unter diese
gehört das Vermögen, sich verändern zu lassen und zu
fühlen, nebst der innern Selbstthätigkeit, die vervoll-
kommentlich ist, und sich vergrößern und verstärken
läßt. Es ist anderswo *) gezeiget worden, wenn
man die Aeußerungen der Naturkraft in der menschli-
chen Seele so weit zerg liedert, als es, meiner Meinung
nach, angehet, so komme man auf ein einfaches Prin-
cip, worunter die ersten Grundkräfte gebracht werden
können; und dieß Princip ist ein Vermögen zu fühlen
und mit perfektibler Selbstthätigkeit zurückzuwirken.
Aber hier erfodert es mein Zweck gar nicht, bis so weit
zurück zu gehen. Es ist genug bey den ersten Sprossen
dieser Grundkraft, nämlich bey dem Gefühl der Denk-
kraft, und der Thätigkeitskraft, oder dem Gefühl,
dem Verstande und dem Willen, stehen zu bleiben,
und diese für die ersten Grundkräfte anzunehmen. Alle
übrigen Fähigkeiten, die in der entwickelten Seele ge-
funden werden, sind abgeleitete Vermögen, welche
aus jenen, durch die Erhöhung, Verstärkung unb Ver-
längerung in verschiedenen Richtungen, und durch neue
Verbindungen unter ihnen entstanden sind.

Es sey indessen hier ein für allemal erinnert, daß,
wenn ich |diese vorgenannten Vermögen, das Gefühl,
den Verstand und den Willen als Grundkräfte anführe,
dieß nicht so viel heißen solle, als wenn ich meine obige
Analyse der Seelenvermögen **) hier nun schon als un-
bezweifelt richtig voraussetzen und darauf die folgenden
Betrachtungen bauen wolle! Dieß nicht. Jedem
Psychologen sey es vergönnt, sein eigenes System zum

Grun-
*) Jm eilften Versuch.
**) Jm zehnten Versuch.

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Kraͤfte der einfachen Seele ſeyn, oder von der Organi-
ſation des Gehirns abhangen; man darf hier den Men-
ſchen nur nehmen, wie er Menſch iſt. Unter dieſe
gehoͤrt das Vermoͤgen, ſich veraͤndern zu laſſen und zu
fuͤhlen, nebſt der innern Selbſtthaͤtigkeit, die vervoll-
kommentlich iſt, und ſich vergroͤßern und verſtaͤrken
laͤßt. Es iſt anderswo *) gezeiget worden, wenn
man die Aeußerungen der Naturkraft in der menſchli-
chen Seele ſo weit zerg liedert, als es, meiner Meinung
nach, angehet, ſo komme man auf ein einfaches Prin-
cip, worunter die erſten Grundkraͤfte gebracht werden
koͤnnen; und dieß Princip iſt ein Vermoͤgen zu fuͤhlen
und mit perfektibler Selbſtthaͤtigkeit zuruͤckzuwirken.
Aber hier erfodert es mein Zweck gar nicht, bis ſo weit
zuruͤck zu gehen. Es iſt genug bey den erſten Sproſſen
dieſer Grundkraft, naͤmlich bey dem Gefuͤhl der Denk-
kraft, und der Thaͤtigkeitskraft, oder dem Gefuͤhl,
dem Verſtande und dem Willen, ſtehen zu bleiben,
und dieſe fuͤr die erſten Grundkraͤfte anzunehmen. Alle
uͤbrigen Faͤhigkeiten, die in der entwickelten Seele ge-
funden werden, ſind abgeleitete Vermoͤgen, welche
aus jenen, durch die Erhoͤhung, Verſtaͤrkung unb Ver-
laͤngerung in verſchiedenen Richtungen, und durch neue
Verbindungen unter ihnen entſtanden ſind.

Es ſey indeſſen hier ein fuͤr allemal erinnert, daß,
wenn ich |dieſe vorgenannten Vermoͤgen, das Gefuͤhl,
den Verſtand und den Willen als Grundkraͤfte anfuͤhre,
dieß nicht ſo viel heißen ſolle, als wenn ich meine obige
Analyſe der Seelenvermoͤgen **) hier nun ſchon als un-
bezweifelt richtig vorausſetzen und darauf die folgenden
Betrachtungen bauen wolle! Dieß nicht. Jedem
Pſychologen ſey es vergoͤnnt, ſein eigenes Syſtem zum

Grun-
*) Jm eilften Verſuch.
**) Jm zehnten Verſuch.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0404" n="374"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ver&#x017F;. Ueber die Perfektibilita&#x0364;t</hi></fw><lb/>
Kra&#x0364;fte der einfachen Seele &#x017F;eyn, oder von der Organi-<lb/>
&#x017F;ation des Gehirns abhangen; man darf hier den Men-<lb/>
&#x017F;chen nur nehmen, wie er Men&#x017F;ch i&#x017F;t. Unter die&#x017F;e<lb/>
geho&#x0364;rt das Vermo&#x0364;gen, &#x017F;ich vera&#x0364;ndern zu la&#x017F;&#x017F;en und zu<lb/>
fu&#x0364;hlen, neb&#x017F;t der innern Selb&#x017F;ttha&#x0364;tigkeit, die vervoll-<lb/>
kommentlich i&#x017F;t, und &#x017F;ich vergro&#x0364;ßern und ver&#x017F;ta&#x0364;rken<lb/>
la&#x0364;ßt. Es i&#x017F;t anderswo <note place="foot" n="*)">Jm eilften Ver&#x017F;uch.</note> gezeiget worden, wenn<lb/>
man die Aeußerungen der Naturkraft in der men&#x017F;chli-<lb/>
chen Seele &#x017F;o weit zerg liedert, als es, meiner Meinung<lb/>
nach, angehet, &#x017F;o komme man auf ein einfaches Prin-<lb/>
cip, worunter die er&#x017F;ten Grundkra&#x0364;fte gebracht werden<lb/>
ko&#x0364;nnen; und dieß Princip i&#x017F;t ein Vermo&#x0364;gen zu fu&#x0364;hlen<lb/>
und mit perfektibler Selb&#x017F;ttha&#x0364;tigkeit zuru&#x0364;ckzuwirken.<lb/>
Aber hier erfodert es mein Zweck gar nicht, bis &#x017F;o weit<lb/>
zuru&#x0364;ck zu gehen. Es i&#x017F;t genug bey den er&#x017F;ten Spro&#x017F;&#x017F;en<lb/>
die&#x017F;er Grundkraft, na&#x0364;mlich bey dem Gefu&#x0364;hl der Denk-<lb/>
kraft, und der Tha&#x0364;tigkeitskraft, oder dem <hi rendition="#fr">Gefu&#x0364;hl,</hi><lb/>
dem <hi rendition="#fr">Ver&#x017F;tande</hi> und dem <hi rendition="#fr">Willen,</hi> &#x017F;tehen zu bleiben,<lb/>
und die&#x017F;e fu&#x0364;r die er&#x017F;ten Grundkra&#x0364;fte anzunehmen. Alle<lb/>
u&#x0364;brigen Fa&#x0364;higkeiten, die in der entwickelten Seele ge-<lb/>
funden werden, &#x017F;ind <hi rendition="#fr">abgeleitete Vermo&#x0364;gen,</hi> welche<lb/>
aus jenen, durch die Erho&#x0364;hung, Ver&#x017F;ta&#x0364;rkung unb Ver-<lb/>
la&#x0364;ngerung in ver&#x017F;chiedenen Richtungen, und durch neue<lb/>
Verbindungen unter ihnen ent&#x017F;tanden &#x017F;ind.</p><lb/>
            <p>Es &#x017F;ey inde&#x017F;&#x017F;en hier ein fu&#x0364;r allemal erinnert, daß,<lb/>
wenn ich |die&#x017F;e vorgenannten Vermo&#x0364;gen, das Gefu&#x0364;hl,<lb/>
den Ver&#x017F;tand und den Willen als Grundkra&#x0364;fte anfu&#x0364;hre,<lb/>
dieß nicht &#x017F;o viel heißen &#x017F;olle, als wenn ich meine obige<lb/>
Analy&#x017F;e der Seelenvermo&#x0364;gen <note place="foot" n="**)">Jm zehnten Ver&#x017F;uch.</note> hier nun &#x017F;chon als un-<lb/>
bezweifelt richtig voraus&#x017F;etzen und darauf die folgenden<lb/>
Betrachtungen bauen wolle! Dieß nicht. Jedem<lb/>
P&#x017F;ychologen &#x017F;ey es vergo&#x0364;nnt, &#x017F;ein eigenes Sy&#x017F;tem zum<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Grun-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[374/0404] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt Kraͤfte der einfachen Seele ſeyn, oder von der Organi- ſation des Gehirns abhangen; man darf hier den Men- ſchen nur nehmen, wie er Menſch iſt. Unter dieſe gehoͤrt das Vermoͤgen, ſich veraͤndern zu laſſen und zu fuͤhlen, nebſt der innern Selbſtthaͤtigkeit, die vervoll- kommentlich iſt, und ſich vergroͤßern und verſtaͤrken laͤßt. Es iſt anderswo *) gezeiget worden, wenn man die Aeußerungen der Naturkraft in der menſchli- chen Seele ſo weit zerg liedert, als es, meiner Meinung nach, angehet, ſo komme man auf ein einfaches Prin- cip, worunter die erſten Grundkraͤfte gebracht werden koͤnnen; und dieß Princip iſt ein Vermoͤgen zu fuͤhlen und mit perfektibler Selbſtthaͤtigkeit zuruͤckzuwirken. Aber hier erfodert es mein Zweck gar nicht, bis ſo weit zuruͤck zu gehen. Es iſt genug bey den erſten Sproſſen dieſer Grundkraft, naͤmlich bey dem Gefuͤhl der Denk- kraft, und der Thaͤtigkeitskraft, oder dem Gefuͤhl, dem Verſtande und dem Willen, ſtehen zu bleiben, und dieſe fuͤr die erſten Grundkraͤfte anzunehmen. Alle uͤbrigen Faͤhigkeiten, die in der entwickelten Seele ge- funden werden, ſind abgeleitete Vermoͤgen, welche aus jenen, durch die Erhoͤhung, Verſtaͤrkung unb Ver- laͤngerung in verſchiedenen Richtungen, und durch neue Verbindungen unter ihnen entſtanden ſind. Es ſey indeſſen hier ein fuͤr allemal erinnert, daß, wenn ich |dieſe vorgenannten Vermoͤgen, das Gefuͤhl, den Verſtand und den Willen als Grundkraͤfte anfuͤhre, dieß nicht ſo viel heißen ſolle, als wenn ich meine obige Analyſe der Seelenvermoͤgen **) hier nun ſchon als un- bezweifelt richtig vorausſetzen und darauf die folgenden Betrachtungen bauen wolle! Dieß nicht. Jedem Pſychologen ſey es vergoͤnnt, ſein eigenes Syſtem zum Grun- *) Jm eilften Verſuch. **) Jm zehnten Verſuch.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/404
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 374. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/404>, abgerufen am 22.11.2024.