leichtern. Zuweilen stehen einige wilde Fertigkeiten zwar im Wege andere hinzupflanzen, und da ist die Kunst des Erziehers eine wahre und schwere Kunst. Aber dennoch läßt sichs thun, und es kommt nur darauf an, daß die nämliche innere Wirksamkeit, die sich an einer Seite von selbst offenbaret, durch Umstände gelei- tet wird, sich anderswohin auszulassen. Und eben dieß, daß eine jede Fertigkeit durch die geschickte Wen- dung zu einer andern werden kann, beweiset, daß die Stärke der Kraft, welche sich in jener zeigte, auch zu- gleich eine Stärke der gesammten Grundkraft enthält.
Daß es so viele einzelne Beyspiele giebt, die dieser Behauptung entgegenzustehen scheinen; daß Leute von großen Einsichten des Verstandes wenig oder gar kein Gefühl von dem haben, was schön oder häßlich, wohl- anständig oder niedrig ist; daß es andere giebt, die bey einer feinen Empfindsamkeit einen schwachen Verstand besitzen, und noch schwächer sind, wenn sie sich selbst in ihren Handlungen regieren sollen; daß bey einigen diese Ungleichheit, die Stärke an Einer und die Schwäche an der andern Seite, so weit gehet, daß sie psychologi- sche Paradoxa werden: hebt den allgemeinen Erfah- rungssatz nicht auf, sondern bestimmt ihn nur näher, und darf uns überhaupt so sehr nicht befremden. Der Einfluß einer einseitigen Vervollkommnung in das Ganze der Seele ist oft an sich nur geringe, zuweilen unbemerkbar, vielleicht so sehr, daß man ihn nur in der Theorie für etwas, in der Anwendung aber für Nichts, ansehen kann. Es giebt unzählig viele Ursachen, die seine Wirkung zurückhalten und schwächen können. Nicht zu sagen, daß wirklich zuweilen nur ein Schein von Unvermögen vorhanden ist, und daß selbst die zu große Stärke der Kraft einen Grund des Unvermögens zu gewissen Handlungen ausmacht, wie schon vorher (3.) erinnert ist. Ueberdieß aber ist es auch wohl begreiflich,
daß
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
leichtern. Zuweilen ſtehen einige wilde Fertigkeiten zwar im Wege andere hinzupflanzen, und da iſt die Kunſt des Erziehers eine wahre und ſchwere Kunſt. Aber dennoch laͤßt ſichs thun, und es kommt nur darauf an, daß die naͤmliche innere Wirkſamkeit, die ſich an einer Seite von ſelbſt offenbaret, durch Umſtaͤnde gelei- tet wird, ſich anderswohin auszulaſſen. Und eben dieß, daß eine jede Fertigkeit durch die geſchickte Wen- dung zu einer andern werden kann, beweiſet, daß die Staͤrke der Kraft, welche ſich in jener zeigte, auch zu- gleich eine Staͤrke der geſammten Grundkraft enthaͤlt.
Daß es ſo viele einzelne Beyſpiele giebt, die dieſer Behauptung entgegenzuſtehen ſcheinen; daß Leute von großen Einſichten des Verſtandes wenig oder gar kein Gefuͤhl von dem haben, was ſchoͤn oder haͤßlich, wohl- anſtaͤndig oder niedrig iſt; daß es andere giebt, die bey einer feinen Empfindſamkeit einen ſchwachen Verſtand beſitzen, und noch ſchwaͤcher ſind, wenn ſie ſich ſelbſt in ihren Handlungen regieren ſollen; daß bey einigen dieſe Ungleichheit, die Staͤrke an Einer und die Schwaͤche an der andern Seite, ſo weit gehet, daß ſie pſychologi- ſche Paradoxa werden: hebt den allgemeinen Erfah- rungsſatz nicht auf, ſondern beſtimmt ihn nur naͤher, und darf uns uͤberhaupt ſo ſehr nicht befremden. Der Einfluß einer einſeitigen Vervollkommnung in das Ganze der Seele iſt oft an ſich nur geringe, zuweilen unbemerkbar, vielleicht ſo ſehr, daß man ihn nur in der Theorie fuͤr etwas, in der Anwendung aber fuͤr Nichts, anſehen kann. Es giebt unzaͤhlig viele Urſachen, die ſeine Wirkung zuruͤckhalten und ſchwaͤchen koͤnnen. Nicht zu ſagen, daß wirklich zuweilen nur ein Schein von Unvermoͤgen vorhanden iſt, und daß ſelbſt die zu große Staͤrke der Kraft einen Grund des Unvermoͤgens zu gewiſſen Handlungen ausmacht, wie ſchon vorher (3.) erinnert iſt. Ueberdieß aber iſt es auch wohl begreiflich,
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
leichtern. Zuweilen ſtehen einige wilde Fertigkeiten
zwar im Wege andere hinzupflanzen, und da iſt die
Kunſt des Erziehers eine wahre und ſchwere Kunſt.
Aber dennoch laͤßt ſichs thun, und es kommt nur darauf
an, daß die naͤmliche innere Wirkſamkeit, die ſich an
einer Seite von ſelbſt offenbaret, durch Umſtaͤnde gelei-
tet wird, ſich anderswohin auszulaſſen. Und eben
dieß, daß eine jede Fertigkeit durch die geſchickte Wen-
dung zu einer andern werden kann, beweiſet, daß die
Staͤrke der Kraft, welche ſich in jener zeigte, auch zu-
gleich eine Staͤrke der geſammten Grundkraft enthaͤlt.
Daß es ſo viele einzelne Beyſpiele giebt, die dieſer
Behauptung entgegenzuſtehen ſcheinen; daß Leute von
großen Einſichten des Verſtandes wenig oder gar kein
Gefuͤhl von dem haben, was ſchoͤn oder haͤßlich, wohl-
anſtaͤndig oder niedrig iſt; daß es andere giebt, die bey
einer feinen Empfindſamkeit einen ſchwachen Verſtand
beſitzen, und noch ſchwaͤcher ſind, wenn ſie ſich ſelbſt in
ihren Handlungen regieren ſollen; daß bey einigen dieſe
Ungleichheit, die Staͤrke an Einer und die Schwaͤche
an der andern Seite, ſo weit gehet, daß ſie pſychologi-
ſche Paradoxa werden: hebt den allgemeinen Erfah-
rungsſatz nicht auf, ſondern beſtimmt ihn nur naͤher,
und darf uns uͤberhaupt ſo ſehr nicht befremden. Der
Einfluß einer einſeitigen Vervollkommnung in das
Ganze der Seele iſt oft an ſich nur geringe, zuweilen
unbemerkbar, vielleicht ſo ſehr, daß man ihn nur in der
Theorie fuͤr etwas, in der Anwendung aber fuͤr Nichts,
anſehen kann. Es giebt unzaͤhlig viele Urſachen, die
ſeine Wirkung zuruͤckhalten und ſchwaͤchen koͤnnen.
Nicht zu ſagen, daß wirklich zuweilen nur ein Schein
von Unvermoͤgen vorhanden iſt, und daß ſelbſt die zu
große Staͤrke der Kraft einen Grund des Unvermoͤgens
zu gewiſſen Handlungen ausmacht, wie ſchon vorher (3.)
erinnert iſt. Ueberdieß aber iſt es auch wohl begreiflich,
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/434>, abgerufen am 22.11.2024.
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