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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
Leichtigkeit die individuelle Modification anzunehmen,
nicht sowohl von der Seite, als sie den Stof der Vor-
stellung von der empfundenen Beleidigung oder dem
Freundschaftsdienste hergab, als vielmehr in Hinsicht ih-
rer übrigen Beschaffenheiten, wodurch sie eine solche
Empfindung ward. So verhälts sich auch in den übri-
gen Fällen.

Wenn man also die Erfahrungen, die man von der
Erhöhung und Verstärkung unserer Gefühlsvermögen
hat, näher beleuchtet: so findet man die Verschieden-
heit der gedachten beiden Wirkungen in ihnen ganz deut-
lich. Nicht jedwede Uebung des Gefühls befördert in
gleichem Maße die Leichtigkeit in den Vorstellungen,
und den Zuwachs des Vermögens. Es kommt auch
hiebey sehr auf die verschiedene Richtung an, in der
die Seele wirket, wenn sie Eindrücke aufnimmt und
fühlet. Der übet sein Gefühl an den Schönheiten der
Malerey, um ein Kenner der Gegenstände zu werden,
die schön und hä[ß]lich sind, das ist, deren Empfindung
Vergnügen oder Unlust hervorbringet. Ein anderer
kann diese Empfindungen als Aesthetiker oder als Psy-
cholog aufsuchen; und noch ein anderer kann mehr die
Empfindsamkeit an dem Schönen und den Geschmack
zu erhöhen sich bestreben. Bey den moralischen Ge-
fühlen zeiget sich die nämliche Verschiedenheit. Und
diese verschiedenen Wirkungen sind allerdings mit einan-
der in einem gewissen Grade verbunden, -- und alle
desto größer, je mehr man sich mit der Beschauung und
Empfindung der Objekte, durch deren Eindrücke sie ent-
stehen, beschäfftiger; aber es ist sehr gewöhnlich, daß
eine oder die andere in Vergleichung mit den übrigen
weit| zurückbleibet. Mancher Mann vom Stande
weiß, was Anständigkeit und Feinheit in den Sitten ist;
und sehr viele wissen, was recht und unrecht, löblich
oder tadelhaft ist, mehr, weil man sie von Jugend auf

gegen

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Leichtigkeit die individuelle Modification anzunehmen,
nicht ſowohl von der Seite, als ſie den Stof der Vor-
ſtellung von der empfundenen Beleidigung oder dem
Freundſchaftsdienſte hergab, als vielmehr in Hinſicht ih-
rer uͤbrigen Beſchaffenheiten, wodurch ſie eine ſolche
Empfindung ward. So verhaͤlts ſich auch in den uͤbri-
gen Faͤllen.

Wenn man alſo die Erfahrungen, die man von der
Erhoͤhung und Verſtaͤrkung unſerer Gefuͤhlsvermoͤgen
hat, naͤher beleuchtet: ſo findet man die Verſchieden-
heit der gedachten beiden Wirkungen in ihnen ganz deut-
lich. Nicht jedwede Uebung des Gefuͤhls befoͤrdert in
gleichem Maße die Leichtigkeit in den Vorſtellungen,
und den Zuwachs des Vermoͤgens. Es kommt auch
hiebey ſehr auf die verſchiedene Richtung an, in der
die Seele wirket, wenn ſie Eindruͤcke aufnimmt und
fuͤhlet. Der uͤbet ſein Gefuͤhl an den Schoͤnheiten der
Malerey, um ein Kenner der Gegenſtaͤnde zu werden,
die ſchoͤn und haͤ[ß]lich ſind, das iſt, deren Empfindung
Vergnuͤgen oder Unluſt hervorbringet. Ein anderer
kann dieſe Empfindungen als Aeſthetiker oder als Pſy-
cholog aufſuchen; und noch ein anderer kann mehr die
Empfindſamkeit an dem Schoͤnen und den Geſchmack
zu erhoͤhen ſich beſtreben. Bey den moraliſchen Ge-
fuͤhlen zeiget ſich die naͤmliche Verſchiedenheit. Und
dieſe verſchiedenen Wirkungen ſind allerdings mit einan-
der in einem gewiſſen Grade verbunden, — und alle
deſto groͤßer, je mehr man ſich mit der Beſchauung und
Empfindung der Objekte, durch deren Eindruͤcke ſie ent-
ſtehen, beſchaͤfftiger; aber es iſt ſehr gewoͤhnlich, daß
eine oder die andere in Vergleichung mit den uͤbrigen
weit| zuruͤckbleibet. Mancher Mann vom Stande
weiß, was Anſtaͤndigkeit und Feinheit in den Sitten iſt;
und ſehr viele wiſſen, was recht und unrecht, loͤblich
oder tadelhaft iſt, mehr, weil man ſie von Jugend auf

gegen
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[418/0448] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt Leichtigkeit die individuelle Modification anzunehmen, nicht ſowohl von der Seite, als ſie den Stof der Vor- ſtellung von der empfundenen Beleidigung oder dem Freundſchaftsdienſte hergab, als vielmehr in Hinſicht ih- rer uͤbrigen Beſchaffenheiten, wodurch ſie eine ſolche Empfindung ward. So verhaͤlts ſich auch in den uͤbri- gen Faͤllen. Wenn man alſo die Erfahrungen, die man von der Erhoͤhung und Verſtaͤrkung unſerer Gefuͤhlsvermoͤgen hat, naͤher beleuchtet: ſo findet man die Verſchieden- heit der gedachten beiden Wirkungen in ihnen ganz deut- lich. Nicht jedwede Uebung des Gefuͤhls befoͤrdert in gleichem Maße die Leichtigkeit in den Vorſtellungen, und den Zuwachs des Vermoͤgens. Es kommt auch hiebey ſehr auf die verſchiedene Richtung an, in der die Seele wirket, wenn ſie Eindruͤcke aufnimmt und fuͤhlet. Der uͤbet ſein Gefuͤhl an den Schoͤnheiten der Malerey, um ein Kenner der Gegenſtaͤnde zu werden, die ſchoͤn und haͤßlich ſind, das iſt, deren Empfindung Vergnuͤgen oder Unluſt hervorbringet. Ein anderer kann dieſe Empfindungen als Aeſthetiker oder als Pſy- cholog aufſuchen; und noch ein anderer kann mehr die Empfindſamkeit an dem Schoͤnen und den Geſchmack zu erhoͤhen ſich beſtreben. Bey den moraliſchen Ge- fuͤhlen zeiget ſich die naͤmliche Verſchiedenheit. Und dieſe verſchiedenen Wirkungen ſind allerdings mit einan- der in einem gewiſſen Grade verbunden, — und alle deſto groͤßer, je mehr man ſich mit der Beſchauung und Empfindung der Objekte, durch deren Eindruͤcke ſie ent- ſtehen, beſchaͤfftiger; aber es iſt ſehr gewoͤhnlich, daß eine oder die andere in Vergleichung mit den uͤbrigen weit| zuruͤckbleibet. Mancher Mann vom Stande weiß, was Anſtaͤndigkeit und Feinheit in den Sitten iſt; und ſehr viele wiſſen, was recht und unrecht, loͤblich oder tadelhaft iſt, mehr, weil man ſie von Jugend auf gegen

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 418. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/448>, abgerufen am 22.11.2024.