Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
fühl entspringen. Wenn das Kind sich satt gegessen
hat, so liebkoset es seine Gespielen, trauert und wei-
net mit ihnen, und giebt ihnen von seinem Brod ab.
Selbstgenügsamkeit und Zufriedenheit ist der Boden,
worauf das Gefühl unserer sympathetischen Bewegun-
gen fortkommt. So lange eigene Noth den Men-
schen presset, bekümmert er sich wenig um andrer
Wohl, wenigstens nicht weiter als insoferne dieß ihm
zum Mittel dienet, sein eigenes zu befördern. Groß-
muth und Besorgniß für andrer Glück bey armen Leu-
ten, die selbst Noth leiden, verräth theils eine vor-
zügliche lebhafte Empfindsamkeit, theils eine Stärke
und Furchtlosigkeit der Seele, welche derjenigen ihre
übertrifft, die nur alsdenn großmüthig sind und Mit-
leiden beweisen, wenn ihre eigenen Bedürfnisse im
Ueberflusse gestillt sind. Aber dennoch siehet man,
daß eine gewisse Zufriedenheit mit sich selbst dazu er-
fodert wird; man muß seine eigne Noth vergessen,
wenn das Herz sich frey für andre öffnen soll. Auf-
geräumtes Wesen macht den Menschen zur Wohlge-
wogenheit gegen andre geneigt. Kein Wunder. Jn
solchem Zustande der innern Ruhe werden die unei-
gennützigen sympathetischen Bewegungen, das Gefal-
len an andern, das Mitgefühl mit andrer Leid und
Freude, lebhafter erreget; das Gefühl hat Zeit, darauf
zu achten, und die darinn liegende feine, aber durch-
dringende, Wollust zu schmecken und zu bemerken. Je
stärker das Gefühl, die Phantasie und die selbsttthä-
tige Kraft mehr in den Selbstempfindungen und in
den Wirkungen der Eigenliebe, die auf uns selbst ge-
het, erwecket ist, desto stärker wirket auch die nach-
ahmende Kraft, und desto lebhafter werden ihre innern
Wirkungen empfunden.

Dieß ist also das Gesetz der Ausbildung des Men-
schen an seiner Seelennatur, und ist dem ähnlich,

wornach

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
fuͤhl entſpringen. Wenn das Kind ſich ſatt gegeſſen
hat, ſo liebkoſet es ſeine Geſpielen, trauert und wei-
net mit ihnen, und giebt ihnen von ſeinem Brod ab.
Selbſtgenuͤgſamkeit und Zufriedenheit iſt der Boden,
worauf das Gefuͤhl unſerer ſympathetiſchen Bewegun-
gen fortkommt. So lange eigene Noth den Men-
ſchen preſſet, bekuͤmmert er ſich wenig um andrer
Wohl, wenigſtens nicht weiter als inſoferne dieß ihm
zum Mittel dienet, ſein eigenes zu befoͤrdern. Groß-
muth und Beſorgniß fuͤr andrer Gluͤck bey armen Leu-
ten, die ſelbſt Noth leiden, verraͤth theils eine vor-
zuͤgliche lebhafte Empfindſamkeit, theils eine Staͤrke
und Furchtloſigkeit der Seele, welche derjenigen ihre
uͤbertrifft, die nur alsdenn großmuͤthig ſind und Mit-
leiden beweiſen, wenn ihre eigenen Beduͤrfniſſe im
Ueberfluſſe geſtillt ſind. Aber dennoch ſiehet man,
daß eine gewiſſe Zufriedenheit mit ſich ſelbſt dazu er-
fodert wird; man muß ſeine eigne Noth vergeſſen,
wenn das Herz ſich frey fuͤr andre oͤffnen ſoll. Auf-
geraͤumtes Weſen macht den Menſchen zur Wohlge-
wogenheit gegen andre geneigt. Kein Wunder. Jn
ſolchem Zuſtande der innern Ruhe werden die unei-
gennuͤtzigen ſympathetiſchen Bewegungen, das Gefal-
len an andern, das Mitgefuͤhl mit andrer Leid und
Freude, lebhafter erreget; das Gefuͤhl hat Zeit, darauf
zu achten, und die darinn liegende feine, aber durch-
dringende, Wolluſt zu ſchmecken und zu bemerken. Je
ſtaͤrker das Gefuͤhl, die Phantaſie und die ſelbſttthaͤ-
tige Kraft mehr in den Selbſtempfindungen und in
den Wirkungen der Eigenliebe, die auf uns ſelbſt ge-
het, erwecket iſt, deſto ſtaͤrker wirket auch die nach-
ahmende Kraft, und deſto lebhafter werden ihre innern
Wirkungen empfunden.

Dieß iſt alſo das Geſetz der Ausbildung des Men-
ſchen an ſeiner Seelennatur, und iſt dem aͤhnlich,

wornach
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0456" n="426"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ver&#x017F;. Ueber die Perfektibilita&#x0364;t</hi></fw><lb/>
fu&#x0364;hl ent&#x017F;pringen. Wenn das Kind &#x017F;ich &#x017F;att gege&#x017F;&#x017F;en<lb/>
hat, &#x017F;o liebko&#x017F;et es &#x017F;eine Ge&#x017F;pielen, trauert und wei-<lb/>
net mit ihnen, und giebt ihnen von &#x017F;einem Brod ab.<lb/>
Selb&#x017F;tgenu&#x0364;g&#x017F;amkeit und Zufriedenheit i&#x017F;t der Boden,<lb/>
worauf das Gefu&#x0364;hl un&#x017F;erer &#x017F;ympatheti&#x017F;chen Bewegun-<lb/>
gen fortkommt. So lange eigene Noth den Men-<lb/>
&#x017F;chen pre&#x017F;&#x017F;et, beku&#x0364;mmert er &#x017F;ich wenig um andrer<lb/>
Wohl, wenig&#x017F;tens nicht weiter als in&#x017F;oferne dieß ihm<lb/>
zum Mittel dienet, &#x017F;ein eigenes zu befo&#x0364;rdern. Groß-<lb/>
muth und Be&#x017F;orgniß fu&#x0364;r andrer Glu&#x0364;ck bey armen Leu-<lb/>
ten, die &#x017F;elb&#x017F;t Noth leiden, verra&#x0364;th theils eine vor-<lb/>
zu&#x0364;gliche lebhafte Empfind&#x017F;amkeit, theils eine Sta&#x0364;rke<lb/>
und Furchtlo&#x017F;igkeit der Seele, welche derjenigen ihre<lb/>
u&#x0364;bertrifft, die nur alsdenn großmu&#x0364;thig &#x017F;ind und Mit-<lb/>
leiden bewei&#x017F;en, wenn ihre eigenen Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;e im<lb/>
Ueberflu&#x017F;&#x017F;e ge&#x017F;tillt &#x017F;ind. Aber dennoch &#x017F;iehet man,<lb/>
daß eine gewi&#x017F;&#x017F;e Zufriedenheit mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t dazu er-<lb/>
fodert wird; man muß &#x017F;eine eigne Noth verge&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
wenn das Herz &#x017F;ich frey fu&#x0364;r andre o&#x0364;ffnen &#x017F;oll. Auf-<lb/>
gera&#x0364;umtes We&#x017F;en macht den Men&#x017F;chen zur Wohlge-<lb/>
wogenheit gegen andre geneigt. Kein Wunder. Jn<lb/>
&#x017F;olchem Zu&#x017F;tande der innern Ruhe werden die unei-<lb/>
gennu&#x0364;tzigen &#x017F;ympatheti&#x017F;chen Bewegungen, das Gefal-<lb/>
len an andern, das Mitgefu&#x0364;hl mit andrer Leid und<lb/>
Freude, lebhafter erreget; das Gefu&#x0364;hl hat Zeit, darauf<lb/>
zu achten, und die darinn liegende feine, aber durch-<lb/>
dringende, Wollu&#x017F;t zu &#x017F;chmecken und zu bemerken. Je<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;rker das Gefu&#x0364;hl, die Phanta&#x017F;ie und die &#x017F;elb&#x017F;tttha&#x0364;-<lb/>
tige Kraft mehr in den Selb&#x017F;tempfindungen und in<lb/>
den Wirkungen der Eigenliebe, die auf uns &#x017F;elb&#x017F;t ge-<lb/>
het, erwecket i&#x017F;t, de&#x017F;to &#x017F;ta&#x0364;rker wirket auch die nach-<lb/>
ahmende Kraft, und de&#x017F;to lebhafter werden ihre innern<lb/>
Wirkungen empfunden.</p><lb/>
              <p>Dieß i&#x017F;t al&#x017F;o das Ge&#x017F;etz der Ausbildung des Men-<lb/>
&#x017F;chen an &#x017F;einer Seelennatur, und i&#x017F;t dem a&#x0364;hnlich,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wornach</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[426/0456] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt fuͤhl entſpringen. Wenn das Kind ſich ſatt gegeſſen hat, ſo liebkoſet es ſeine Geſpielen, trauert und wei- net mit ihnen, und giebt ihnen von ſeinem Brod ab. Selbſtgenuͤgſamkeit und Zufriedenheit iſt der Boden, worauf das Gefuͤhl unſerer ſympathetiſchen Bewegun- gen fortkommt. So lange eigene Noth den Men- ſchen preſſet, bekuͤmmert er ſich wenig um andrer Wohl, wenigſtens nicht weiter als inſoferne dieß ihm zum Mittel dienet, ſein eigenes zu befoͤrdern. Groß- muth und Beſorgniß fuͤr andrer Gluͤck bey armen Leu- ten, die ſelbſt Noth leiden, verraͤth theils eine vor- zuͤgliche lebhafte Empfindſamkeit, theils eine Staͤrke und Furchtloſigkeit der Seele, welche derjenigen ihre uͤbertrifft, die nur alsdenn großmuͤthig ſind und Mit- leiden beweiſen, wenn ihre eigenen Beduͤrfniſſe im Ueberfluſſe geſtillt ſind. Aber dennoch ſiehet man, daß eine gewiſſe Zufriedenheit mit ſich ſelbſt dazu er- fodert wird; man muß ſeine eigne Noth vergeſſen, wenn das Herz ſich frey fuͤr andre oͤffnen ſoll. Auf- geraͤumtes Weſen macht den Menſchen zur Wohlge- wogenheit gegen andre geneigt. Kein Wunder. Jn ſolchem Zuſtande der innern Ruhe werden die unei- gennuͤtzigen ſympathetiſchen Bewegungen, das Gefal- len an andern, das Mitgefuͤhl mit andrer Leid und Freude, lebhafter erreget; das Gefuͤhl hat Zeit, darauf zu achten, und die darinn liegende feine, aber durch- dringende, Wolluſt zu ſchmecken und zu bemerken. Je ſtaͤrker das Gefuͤhl, die Phantaſie und die ſelbſttthaͤ- tige Kraft mehr in den Selbſtempfindungen und in den Wirkungen der Eigenliebe, die auf uns ſelbſt ge- het, erwecket iſt, deſto ſtaͤrker wirket auch die nach- ahmende Kraft, und deſto lebhafter werden ihre innern Wirkungen empfunden. Dieß iſt alſo das Geſetz der Ausbildung des Men- ſchen an ſeiner Seelennatur, und iſt dem aͤhnlich, wornach

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/456
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/456>, abgerufen am 22.11.2024.