Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

und Entwickelung des Menschen.
wornach der Körper wächst. Gefühle und Vorstel-
lungen sind der Nahrungssaft, welcher der Grund-
kraft zugeführet wird, selbige reizet und in Thätigkeit
setzet, wovon anfangs die Wirkung sich allein nur auf
das Gefühl einschränkte. Jede thätige Aeußerung
der Kraft stärket sie selbst. Das, was nur Anlage
und Möglichkeit war, wird Disposition, Fähigkeit,
Trieb, Fertigkeit,
so wie die Leichtigkeit zu wirken
anwächset. Der Uebergang von bloßer Fertigkeit
zur nähern Anlage oder Disposition beruhet nach
dem gemeinen Begriffe darauf, daß zu der ersten noch
etwas von außen hinzukommen müsse, um in die letz-
tere überzugehen. Die weitern Schritte geschehen
auf die nämliche Art. Nur unterscheiden sie sich dar-
inn, daß nicht immerfort die folgenden Grade der
Leichtigkeit eine Beywirkung von äußern Ursachen,
oder doch nicht in dem gleichen Grade, erfodern. Denn
wo schon merkliche Fähigkeit ist, da kommt es nur am
meisten auf das an, was in der Kraft selbst liegt, näm-
lich auf die eigenmächtige Aeußerung und Anwen-
dung derselben, welche wir alsdenn, wenn wir uns
eine Fähigkeit vorstellen, innerlich für so stark anse-
hen, daß sie selbst sich bestimmen und sich forthelfen,
und sich die noch zur vollen Fertigkeit fehlenden Stufen
der Leichtigkeit verschaffen kann. Aber wo noch
nichts mehr vorhanden ist, als bloßes Vermögen,
bloße Möglichkeit, oder bloße und schwache Anlage,
da ist auch noch ein Geburtshelfer nöthig, der der Fä-
higkeit forthelfe, oder eigentlich zu reden, noch eine
äußere Ursache, die durch ihren Einfluß uns reize
und erwecke.

Es giebt hierinn eine Stufenleiter von dem
bloßen Vermögen an bis zu der volligsten Fertig-
keit,
auf der man einige Grade |durch die erwähnten
Benennungen von Anlagen, Fähigkeiten, Geschick-

lichkei-

und Entwickelung des Menſchen.
wornach der Koͤrper waͤchſt. Gefuͤhle und Vorſtel-
lungen ſind der Nahrungsſaft, welcher der Grund-
kraft zugefuͤhret wird, ſelbige reizet und in Thaͤtigkeit
ſetzet, wovon anfangs die Wirkung ſich allein nur auf
das Gefuͤhl einſchraͤnkte. Jede thaͤtige Aeußerung
der Kraft ſtaͤrket ſie ſelbſt. Das, was nur Anlage
und Moͤglichkeit war, wird Diſpoſition, Faͤhigkeit,
Trieb, Fertigkeit,
ſo wie die Leichtigkeit zu wirken
anwaͤchſet. Der Uebergang von bloßer Fertigkeit
zur naͤhern Anlage oder Diſpoſition beruhet nach
dem gemeinen Begriffe darauf, daß zu der erſten noch
etwas von außen hinzukommen muͤſſe, um in die letz-
tere uͤberzugehen. Die weitern Schritte geſchehen
auf die naͤmliche Art. Nur unterſcheiden ſie ſich dar-
inn, daß nicht immerfort die folgenden Grade der
Leichtigkeit eine Beywirkung von aͤußern Urſachen,
oder doch nicht in dem gleichen Grade, erfodern. Denn
wo ſchon merkliche Faͤhigkeit iſt, da kommt es nur am
meiſten auf das an, was in der Kraft ſelbſt liegt, naͤm-
lich auf die eigenmaͤchtige Aeußerung und Anwen-
dung derſelben, welche wir alsdenn, wenn wir uns
eine Faͤhigkeit vorſtellen, innerlich fuͤr ſo ſtark anſe-
hen, daß ſie ſelbſt ſich beſtimmen und ſich forthelfen,
und ſich die noch zur vollen Fertigkeit fehlenden Stufen
der Leichtigkeit verſchaffen kann. Aber wo noch
nichts mehr vorhanden iſt, als bloßes Vermoͤgen,
bloße Moͤglichkeit, oder bloße und ſchwache Anlage,
da iſt auch noch ein Geburtshelfer noͤthig, der der Faͤ-
higkeit forthelfe, oder eigentlich zu reden, noch eine
aͤußere Urſache, die durch ihren Einfluß uns reize
und erwecke.

Es giebt hierinn eine Stufenleiter von dem
bloßen Vermoͤgen an bis zu der volligſten Fertig-
keit,
auf der man einige Grade |durch die erwaͤhnten
Benennungen von Anlagen, Faͤhigkeiten, Geſchick-

lichkei-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0457" n="427"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Entwickelung des Men&#x017F;chen.</hi></fw><lb/>
wornach der Ko&#x0364;rper wa&#x0364;ch&#x017F;t. Gefu&#x0364;hle und Vor&#x017F;tel-<lb/>
lungen &#x017F;ind der Nahrungs&#x017F;aft, welcher der Grund-<lb/>
kraft zugefu&#x0364;hret wird, &#x017F;elbige reizet und in Tha&#x0364;tigkeit<lb/>
&#x017F;etzet, wovon anfangs die Wirkung &#x017F;ich allein nur auf<lb/>
das Gefu&#x0364;hl ein&#x017F;chra&#x0364;nkte. Jede tha&#x0364;tige Aeußerung<lb/>
der Kraft &#x017F;ta&#x0364;rket &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t. Das, was nur <hi rendition="#fr">Anlage</hi><lb/>
und Mo&#x0364;glichkeit war, wird <hi rendition="#fr">Di&#x017F;po&#x017F;ition, Fa&#x0364;higkeit,<lb/>
Trieb, Fertigkeit,</hi> &#x017F;o wie die Leichtigkeit zu wirken<lb/>
anwa&#x0364;ch&#x017F;et. Der Uebergang von <hi rendition="#fr">bloßer Fertigkeit</hi><lb/>
zur na&#x0364;hern <hi rendition="#fr">Anlage</hi> oder <hi rendition="#fr">Di&#x017F;po&#x017F;ition</hi> beruhet nach<lb/>
dem gemeinen Begriffe darauf, daß zu der er&#x017F;ten noch<lb/>
etwas von außen hinzukommen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, um in die letz-<lb/>
tere u&#x0364;berzugehen. Die weitern Schritte ge&#x017F;chehen<lb/>
auf die na&#x0364;mliche Art. Nur unter&#x017F;cheiden &#x017F;ie &#x017F;ich dar-<lb/>
inn, daß nicht immerfort die folgenden Grade der<lb/>
Leichtigkeit eine Beywirkung von a&#x0364;ußern Ur&#x017F;achen,<lb/>
oder doch nicht in dem gleichen Grade, erfodern. Denn<lb/>
wo &#x017F;chon merkliche Fa&#x0364;higkeit i&#x017F;t, da kommt es nur am<lb/>
mei&#x017F;ten auf das an, was in der Kraft &#x017F;elb&#x017F;t liegt, na&#x0364;m-<lb/>
lich auf die eigenma&#x0364;chtige Aeußerung und Anwen-<lb/>
dung der&#x017F;elben, welche wir alsdenn, wenn wir uns<lb/>
eine <hi rendition="#fr">Fa&#x0364;higkeit</hi> vor&#x017F;tellen, innerlich fu&#x0364;r &#x017F;o &#x017F;tark an&#x017F;e-<lb/>
hen, daß &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ich be&#x017F;timmen und &#x017F;ich forthelfen,<lb/>
und &#x017F;ich die noch zur vollen Fertigkeit fehlenden Stufen<lb/>
der Leichtigkeit ver&#x017F;chaffen kann. Aber wo noch<lb/>
nichts mehr vorhanden i&#x017F;t, als bloßes Vermo&#x0364;gen,<lb/>
bloße Mo&#x0364;glichkeit, oder bloße und &#x017F;chwache Anlage,<lb/>
da i&#x017F;t auch noch ein Geburtshelfer no&#x0364;thig, der der Fa&#x0364;-<lb/>
higkeit forthelfe, oder eigentlich zu reden, noch eine<lb/>
a&#x0364;ußere Ur&#x017F;ache, die durch ihren Einfluß uns reize<lb/>
und erwecke.</p><lb/>
              <p>Es giebt hierinn eine Stufenleiter von dem<lb/><hi rendition="#fr">bloßen Vermo&#x0364;gen</hi> an bis zu der <hi rendition="#fr">vollig&#x017F;ten Fertig-<lb/>
keit,</hi> auf der man einige Grade |durch die erwa&#x0364;hnten<lb/>
Benennungen von <hi rendition="#fr">Anlagen, Fa&#x0364;higkeiten, Ge&#x017F;chick-</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">lichkei-</hi></fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[427/0457] und Entwickelung des Menſchen. wornach der Koͤrper waͤchſt. Gefuͤhle und Vorſtel- lungen ſind der Nahrungsſaft, welcher der Grund- kraft zugefuͤhret wird, ſelbige reizet und in Thaͤtigkeit ſetzet, wovon anfangs die Wirkung ſich allein nur auf das Gefuͤhl einſchraͤnkte. Jede thaͤtige Aeußerung der Kraft ſtaͤrket ſie ſelbſt. Das, was nur Anlage und Moͤglichkeit war, wird Diſpoſition, Faͤhigkeit, Trieb, Fertigkeit, ſo wie die Leichtigkeit zu wirken anwaͤchſet. Der Uebergang von bloßer Fertigkeit zur naͤhern Anlage oder Diſpoſition beruhet nach dem gemeinen Begriffe darauf, daß zu der erſten noch etwas von außen hinzukommen muͤſſe, um in die letz- tere uͤberzugehen. Die weitern Schritte geſchehen auf die naͤmliche Art. Nur unterſcheiden ſie ſich dar- inn, daß nicht immerfort die folgenden Grade der Leichtigkeit eine Beywirkung von aͤußern Urſachen, oder doch nicht in dem gleichen Grade, erfodern. Denn wo ſchon merkliche Faͤhigkeit iſt, da kommt es nur am meiſten auf das an, was in der Kraft ſelbſt liegt, naͤm- lich auf die eigenmaͤchtige Aeußerung und Anwen- dung derſelben, welche wir alsdenn, wenn wir uns eine Faͤhigkeit vorſtellen, innerlich fuͤr ſo ſtark anſe- hen, daß ſie ſelbſt ſich beſtimmen und ſich forthelfen, und ſich die noch zur vollen Fertigkeit fehlenden Stufen der Leichtigkeit verſchaffen kann. Aber wo noch nichts mehr vorhanden iſt, als bloßes Vermoͤgen, bloße Moͤglichkeit, oder bloße und ſchwache Anlage, da iſt auch noch ein Geburtshelfer noͤthig, der der Faͤ- higkeit forthelfe, oder eigentlich zu reden, noch eine aͤußere Urſache, die durch ihren Einfluß uns reize und erwecke. Es giebt hierinn eine Stufenleiter von dem bloßen Vermoͤgen an bis zu der volligſten Fertig- keit, auf der man einige Grade |durch die erwaͤhnten Benennungen von Anlagen, Faͤhigkeiten, Geſchick- lichkei-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/457
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/457>, abgerufen am 22.11.2024.