Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

und Entwickelung des Menschen.
halten, und also noch mehr in dem Körper des gebor-
nen Kindes. Zu welcher unendlichen Anzahl ange-
borner unterschiedener Gefühle führet diese Vorausse-
tzung nicht; da so gar die bloße Verschiedenheit der Ob-
jekte schon eigene unterschiedene angeborne Gefühlsver-
mögen erfodert?*)

Es können zwar, ich rede nach dieser Hypothese,
mehrere Gefühle, am ersten solche, bey denen kein
anderer Unterschied als blos in den Gegenständen be-
merklich ist, z. B. das Gefühl der Musik und das
Gefallen an hellen glänzenden Sachen, das man bey
allen Nationen ohne Ausnahme antrifft, in Ein allge-
meines Vermögen aufgelöset werden. Dieß einzige
Vermögen ist dann dasjenige, was an allen diesen
Empfindungen nur auf verschiedene Objekte, auch et-
wa durch unterschiedene Organe und in unterschiedenen
Richtungen, sich verschiedentlich äußert. Aber ist eine
solche Reduktion etwas anders als eine Abstraktion, da
man das Aehnliche mehrerer einzelner Vermögen
heraus nimmt, und aus diesen ein besonderes Ver-
mögen bildet? Macht die ähnliche Beschaffenheit
mehrerer Fibern Eine Fiber aus? Wenn die nämliche
Fiber das rothe Licht und das Blaue aufnähme, und
aus derselbigen Ursache von dieser und von jener Far-
be gefällig modificirt würde: so würde man sagen kön-
nen, es sey Ein und dasselbige Vermögen, das in
beiden Empfindungen sich zeiget, so oder anders, nach
dem Unterschiede der Objekte. Allein so verhält es
sich nicht bey jener Voraussetzung. Das Gemeinschaft-
liche in den Gefühlen ist nicht die Quelle von allen be-
sondern Gefühlen, die aus jenen entspringen, und die-
se letztern sind so wenig Verlängerungen von jenen, als

eine
*) Dreyzehnter Versuch VII. 5.
E e 3

und Entwickelung des Menſchen.
halten, und alſo noch mehr in dem Koͤrper des gebor-
nen Kindes. Zu welcher unendlichen Anzahl ange-
borner unterſchiedener Gefuͤhle fuͤhret dieſe Vorausſe-
tzung nicht; da ſo gar die bloße Verſchiedenheit der Ob-
jekte ſchon eigene unterſchiedene angeborne Gefuͤhlsver-
moͤgen erfodert?*)

Es koͤnnen zwar, ich rede nach dieſer Hypotheſe,
mehrere Gefuͤhle, am erſten ſolche, bey denen kein
anderer Unterſchied als blos in den Gegenſtaͤnden be-
merklich iſt, z. B. das Gefuͤhl der Muſik und das
Gefallen an hellen glaͤnzenden Sachen, das man bey
allen Nationen ohne Ausnahme antrifft, in Ein allge-
meines Vermoͤgen aufgeloͤſet werden. Dieß einzige
Vermoͤgen iſt dann dasjenige, was an allen dieſen
Empfindungen nur auf verſchiedene Objekte, auch et-
wa durch unterſchiedene Organe und in unterſchiedenen
Richtungen, ſich verſchiedentlich aͤußert. Aber iſt eine
ſolche Reduktion etwas anders als eine Abſtraktion, da
man das Aehnliche mehrerer einzelner Vermoͤgen
heraus nimmt, und aus dieſen ein beſonderes Ver-
moͤgen bildet? Macht die aͤhnliche Beſchaffenheit
mehrerer Fibern Eine Fiber aus? Wenn die naͤmliche
Fiber das rothe Licht und das Blaue aufnaͤhme, und
aus derſelbigen Urſache von dieſer und von jener Far-
be gefaͤllig modificirt wuͤrde: ſo wuͤrde man ſagen koͤn-
nen, es ſey Ein und daſſelbige Vermoͤgen, das in
beiden Empfindungen ſich zeiget, ſo oder anders, nach
dem Unterſchiede der Objekte. Allein ſo verhaͤlt es
ſich nicht bey jener Vorausſetzung. Das Gemeinſchaft-
liche in den Gefuͤhlen iſt nicht die Quelle von allen be-
ſondern Gefuͤhlen, die aus jenen entſpringen, und die-
ſe letztern ſind ſo wenig Verlaͤngerungen von jenen, als

eine
*) Dreyzehnter Verſuch VII. 5.
E e 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0467" n="437"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Entwickelung des Men&#x017F;chen.</hi></fw><lb/>
halten, und al&#x017F;o noch mehr in dem Ko&#x0364;rper des gebor-<lb/>
nen Kindes. Zu welcher unendlichen Anzahl ange-<lb/>
borner unter&#x017F;chiedener Gefu&#x0364;hle fu&#x0364;hret die&#x017F;e Voraus&#x017F;e-<lb/>
tzung nicht; da &#x017F;o gar die bloße Ver&#x017F;chiedenheit der Ob-<lb/>
jekte &#x017F;chon eigene unter&#x017F;chiedene angeborne Gefu&#x0364;hlsver-<lb/>
mo&#x0364;gen erfodert?<note place="foot" n="*)">Dreyzehnter Ver&#x017F;uch <hi rendition="#aq">VII.</hi> 5.</note></p><lb/>
              <p>Es ko&#x0364;nnen zwar, ich rede nach die&#x017F;er Hypothe&#x017F;e,<lb/>
mehrere Gefu&#x0364;hle, am er&#x017F;ten &#x017F;olche, bey denen kein<lb/>
anderer Unter&#x017F;chied als blos in den Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden be-<lb/>
merklich i&#x017F;t, z. B. das Gefu&#x0364;hl der Mu&#x017F;ik und das<lb/>
Gefallen an hellen gla&#x0364;nzenden Sachen, das man bey<lb/>
allen Nationen ohne Ausnahme antrifft, in Ein allge-<lb/>
meines Vermo&#x0364;gen aufgelo&#x0364;&#x017F;et werden. Dieß einzige<lb/>
Vermo&#x0364;gen i&#x017F;t dann dasjenige, was an allen die&#x017F;en<lb/>
Empfindungen nur auf ver&#x017F;chiedene Objekte, auch et-<lb/>
wa durch unter&#x017F;chiedene Organe und in unter&#x017F;chiedenen<lb/>
Richtungen, &#x017F;ich ver&#x017F;chiedentlich a&#x0364;ußert. Aber i&#x017F;t eine<lb/>
&#x017F;olche Reduktion etwas anders als eine Ab&#x017F;traktion, da<lb/>
man das Aehnliche mehrerer einzelner Vermo&#x0364;gen<lb/>
heraus nimmt, und aus die&#x017F;en ein be&#x017F;onderes Ver-<lb/>
mo&#x0364;gen bildet? Macht die a&#x0364;hnliche Be&#x017F;chaffenheit<lb/>
mehrerer Fibern Eine Fiber aus? Wenn die na&#x0364;mliche<lb/>
Fiber das rothe Licht und das Blaue aufna&#x0364;hme, und<lb/>
aus der&#x017F;elbigen Ur&#x017F;ache von die&#x017F;er und von jener Far-<lb/>
be gefa&#x0364;llig modificirt wu&#x0364;rde: &#x017F;o wu&#x0364;rde man &#x017F;agen ko&#x0364;n-<lb/>
nen, es &#x017F;ey Ein und da&#x017F;&#x017F;elbige Vermo&#x0364;gen, das in<lb/>
beiden Empfindungen &#x017F;ich zeiget, &#x017F;o oder anders, nach<lb/>
dem Unter&#x017F;chiede der Objekte. Allein &#x017F;o verha&#x0364;lt es<lb/>
&#x017F;ich nicht bey jener Voraus&#x017F;etzung. Das Gemein&#x017F;chaft-<lb/>
liche in den Gefu&#x0364;hlen i&#x017F;t nicht die Quelle von allen be-<lb/>
&#x017F;ondern Gefu&#x0364;hlen, die aus jenen ent&#x017F;pringen, und die-<lb/>
&#x017F;e letztern &#x017F;ind &#x017F;o wenig Verla&#x0364;ngerungen von jenen, als<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">E e 3</fw><fw place="bottom" type="catch">eine</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[437/0467] und Entwickelung des Menſchen. halten, und alſo noch mehr in dem Koͤrper des gebor- nen Kindes. Zu welcher unendlichen Anzahl ange- borner unterſchiedener Gefuͤhle fuͤhret dieſe Vorausſe- tzung nicht; da ſo gar die bloße Verſchiedenheit der Ob- jekte ſchon eigene unterſchiedene angeborne Gefuͤhlsver- moͤgen erfodert? *) Es koͤnnen zwar, ich rede nach dieſer Hypotheſe, mehrere Gefuͤhle, am erſten ſolche, bey denen kein anderer Unterſchied als blos in den Gegenſtaͤnden be- merklich iſt, z. B. das Gefuͤhl der Muſik und das Gefallen an hellen glaͤnzenden Sachen, das man bey allen Nationen ohne Ausnahme antrifft, in Ein allge- meines Vermoͤgen aufgeloͤſet werden. Dieß einzige Vermoͤgen iſt dann dasjenige, was an allen dieſen Empfindungen nur auf verſchiedene Objekte, auch et- wa durch unterſchiedene Organe und in unterſchiedenen Richtungen, ſich verſchiedentlich aͤußert. Aber iſt eine ſolche Reduktion etwas anders als eine Abſtraktion, da man das Aehnliche mehrerer einzelner Vermoͤgen heraus nimmt, und aus dieſen ein beſonderes Ver- moͤgen bildet? Macht die aͤhnliche Beſchaffenheit mehrerer Fibern Eine Fiber aus? Wenn die naͤmliche Fiber das rothe Licht und das Blaue aufnaͤhme, und aus derſelbigen Urſache von dieſer und von jener Far- be gefaͤllig modificirt wuͤrde: ſo wuͤrde man ſagen koͤn- nen, es ſey Ein und daſſelbige Vermoͤgen, das in beiden Empfindungen ſich zeiget, ſo oder anders, nach dem Unterſchiede der Objekte. Allein ſo verhaͤlt es ſich nicht bey jener Vorausſetzung. Das Gemeinſchaft- liche in den Gefuͤhlen iſt nicht die Quelle von allen be- ſondern Gefuͤhlen, die aus jenen entſpringen, und die- ſe letztern ſind ſo wenig Verlaͤngerungen von jenen, als eine *) Dreyzehnter Verſuch VII. 5. E e 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/467
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/467>, abgerufen am 29.06.2024.