sie allemal unzuverläßig sind, hieße so viel, als ber- keleyisiren.
Es ist nun unnöthig, noch besonders einzelne Fälle von freyen Handlungen anzuführen, in denen ein Ver- mögen, anders handeln zu können, empfunden wird. Ei- nige sind schon nebenher beygebracht. Auch ist dieselbige Handlung, die bey einem Menschen unter gewissen Um- ständen eine freye Handlung ist, nicht allemal eine solche bey einem andern. Aber jeder meiner Leser kann hier, indem er lieset, bey dieser seiner Handlung sich fragen, ob er nicht in sich auf die erwehnte Art ein Vermögen fühle, das Lesen zu unterlassen, wenn er gleich fortlieset? Jch glaube, er lese mit aller der Kaltblütigkeit, die hiezu erfodert wird. Jede Betrachtung, jede willkührliche Be- wegung des Körpers, jedes Fortsetzen des Fußes, jeder Griff mit der Hand, jedwede Aktion, die jemand mit völlig deutlichem Bewußtseyn ohne Leidenschaft, mit ge- setztem und gegenwärtigem Geiste vornimmt, giebt eine Erfahrung ab, die das Gesagte bestätiget. Wir füh- len und empfinden es, daß wir ein Vermögen haben, das zu unterlassen, was wir thun, oder doch es anders zu machen. Wir fühlen einen Zustand in uns, der das ist, was wir unter dem Begriffe von diesem Vermögen uns vorstellen, und eben ein solcher ist, wie andere, aus de- nen dieser Begriff abstrahirt worden ist. Noch mehr. Wir können uns sogleich, wenn wir wollen, davon über- zeugen, daß so ein Vermögen anders zu handeln gegen- wärtig uns beywohne. Laßt es nur anfangen, sich zu äußern, so fühlen wir den Anfang seiner Wirkungen.
Wir unterscheiden überdieß die Fälle sehr deutlich von einander, wenn wir einmal durch die zu große Leb- haftigkeit der Jdeen, und durch einen zu starken Drang der Triebe zur Handlung hingerissen werden, und ein andermal mit völliger Fassung und Gewalt über uns selbst etwas ausrichten. Dort verlieren wir die Gegen-
wart
IITheil. B
und Freyheit.
ſie allemal unzuverlaͤßig ſind, hieße ſo viel, als ber- keleyiſiren.
Es iſt nun unnoͤthig, noch beſonders einzelne Faͤlle von freyen Handlungen anzufuͤhren, in denen ein Ver- moͤgen, anders handeln zu koͤnnen, empfunden wird. Ei- nige ſind ſchon nebenher beygebracht. Auch iſt dieſelbige Handlung, die bey einem Menſchen unter gewiſſen Um- ſtaͤnden eine freye Handlung iſt, nicht allemal eine ſolche bey einem andern. Aber jeder meiner Leſer kann hier, indem er lieſet, bey dieſer ſeiner Handlung ſich fragen, ob er nicht in ſich auf die erwehnte Art ein Vermoͤgen fuͤhle, das Leſen zu unterlaſſen, wenn er gleich fortlieſet? Jch glaube, er leſe mit aller der Kaltbluͤtigkeit, die hiezu erfodert wird. Jede Betrachtung, jede willkuͤhrliche Be- wegung des Koͤrpers, jedes Fortſetzen des Fußes, jeder Griff mit der Hand, jedwede Aktion, die jemand mit voͤllig deutlichem Bewußtſeyn ohne Leidenſchaft, mit ge- ſetztem und gegenwaͤrtigem Geiſte vornimmt, giebt eine Erfahrung ab, die das Geſagte beſtaͤtiget. Wir fuͤh- len und empfinden es, daß wir ein Vermoͤgen haben, das zu unterlaſſen, was wir thun, oder doch es anders zu machen. Wir fuͤhlen einen Zuſtand in uns, der das iſt, was wir unter dem Begriffe von dieſem Vermoͤgen uns vorſtellen, und eben ein ſolcher iſt, wie andere, aus de- nen dieſer Begriff abſtrahirt worden iſt. Noch mehr. Wir koͤnnen uns ſogleich, wenn wir wollen, davon uͤber- zeugen, daß ſo ein Vermoͤgen anders zu handeln gegen- waͤrtig uns beywohne. Laßt es nur anfangen, ſich zu aͤußern, ſo fuͤhlen wir den Anfang ſeiner Wirkungen.
Wir unterſcheiden uͤberdieß die Faͤlle ſehr deutlich von einander, wenn wir einmal durch die zu große Leb- haftigkeit der Jdeen, und durch einen zu ſtarken Drang der Triebe zur Handlung hingeriſſen werden, und ein andermal mit voͤlliger Faſſung und Gewalt uͤber uns ſelbſt etwas ausrichten. Dort verlieren wir die Gegen-
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IITheil. B
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und Freyheit.
ſie allemal unzuverlaͤßig ſind, hieße ſo viel, als ber-
keleyiſiren.
Es iſt nun unnoͤthig, noch beſonders einzelne Faͤlle
von freyen Handlungen anzufuͤhren, in denen ein Ver-
moͤgen, anders handeln zu koͤnnen, empfunden wird. Ei-
nige ſind ſchon nebenher beygebracht. Auch iſt dieſelbige
Handlung, die bey einem Menſchen unter gewiſſen Um-
ſtaͤnden eine freye Handlung iſt, nicht allemal eine ſolche
bey einem andern. Aber jeder meiner Leſer kann hier,
indem er lieſet, bey dieſer ſeiner Handlung ſich fragen,
ob er nicht in ſich auf die erwehnte Art ein Vermoͤgen
fuͤhle, das Leſen zu unterlaſſen, wenn er gleich fortlieſet?
Jch glaube, er leſe mit aller der Kaltbluͤtigkeit, die hiezu
erfodert wird. Jede Betrachtung, jede willkuͤhrliche Be-
wegung des Koͤrpers, jedes Fortſetzen des Fußes, jeder
Griff mit der Hand, jedwede Aktion, die jemand mit
voͤllig deutlichem Bewußtſeyn ohne Leidenſchaft, mit ge-
ſetztem und gegenwaͤrtigem Geiſte vornimmt, giebt eine
Erfahrung ab, die das Geſagte beſtaͤtiget. Wir fuͤh-
len und empfinden es, daß wir ein Vermoͤgen haben, das
zu unterlaſſen, was wir thun, oder doch es anders zu
machen. Wir fuͤhlen einen Zuſtand in uns, der das iſt,
was wir unter dem Begriffe von dieſem Vermoͤgen uns
vorſtellen, und eben ein ſolcher iſt, wie andere, aus de-
nen dieſer Begriff abſtrahirt worden iſt. Noch mehr.
Wir koͤnnen uns ſogleich, wenn wir wollen, davon uͤber-
zeugen, daß ſo ein Vermoͤgen anders zu handeln gegen-
waͤrtig uns beywohne. Laßt es nur anfangen, ſich zu
aͤußern, ſo fuͤhlen wir den Anfang ſeiner Wirkungen.
Wir unterſcheiden uͤberdieß die Faͤlle ſehr deutlich
von einander, wenn wir einmal durch die zu große Leb-
haftigkeit der Jdeen, und durch einen zu ſtarken Drang
der Triebe zur Handlung hingeriſſen werden, und ein
andermal mit voͤlliger Faſſung und Gewalt uͤber uns
ſelbſt etwas ausrichten. Dort verlieren wir die Gegen-
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II Theil. B
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/47>, abgerufen am 03.12.2024.
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