Die Erfahrung lehret, daß die Verbindung zwi- schen zusammengewachsenen Theilen an den Stellen, wo sie sich vereiniget haben, oftmals stärker ist, als selbst die Theile, welche zusammengewachsen sind, an sich waren. Die Stelle des Bruchs an dem Knochen, wo die getrenn- ten Theile wieder zusammengebracht sind, ist so stark und stärker, als der Knochen vor dem Bruch an eben der Stelle war. So wenig ein Zweig, der nicht gepfropfet ist, von dem Stamm abgesondert werden kann, ohne Zerreißung einiger Fasern, so wenig läßt sich dieses mit dem gepfropften auch thun. Das Wenigste also, was man aus den angeführten Beobachtungen schließen kann, ist, daß neue organische Ganze durch die Vereinigung organischer Theile entstehen können, indem diese, jeder für sich allein, sich entwickeln und dann zusammengehen. Es giebt also eine Art, wie organische Formen erzeuget werden, die ihr Daseyn der Vereinigung mehrerer Fi- bern verdanken, und vorher nicht existirt haben.
Diese angeführten Fakta sind solche, welche zu der Jdee, daß neue Formen entstehen, nothwendig hinfüh- ren. Die Menge der übrigen, worauf große Natur- kündiger ihren Begriff von der Epigenesis gebauet ha- ben, sind fast alle von der Art, daß sie zur Bestätigung desselbigen Begriffs zu gebrauchen sind. Es mehret sich die Anzahl der Falten, der Fächer und Abtheilungen in den Blättern, wenn sie auswachsen, und der Ringe an den Würmern, deren abgeschnittene Enden wieder an- wachsen. *) Dieß wird zwar alles von Hr. Bonnet für nichts anders als für eine neue Entwickelung von Ringen angesehen, wozu die Grundformen schon vor- handen waren; aber es ist nirgends von ihm auf diese Art vollständig erklärt worden. Man begreift ihre
Entste-
*)Bonnets Abhandl. aus der Jnsektologie von Hr. Götze übersetzt S. 196.
und Entwickelung des Menſchen.
Die Erfahrung lehret, daß die Verbindung zwi- ſchen zuſammengewachſenen Theilen an den Stellen, wo ſie ſich vereiniget haben, oftmals ſtaͤrker iſt, als ſelbſt die Theile, welche zuſammengewachſen ſind, an ſich waren. Die Stelle des Bruchs an dem Knochen, wo die getrenn- ten Theile wieder zuſammengebracht ſind, iſt ſo ſtark und ſtaͤrker, als der Knochen vor dem Bruch an eben der Stelle war. So wenig ein Zweig, der nicht gepfropfet iſt, von dem Stamm abgeſondert werden kann, ohne Zerreißung einiger Faſern, ſo wenig laͤßt ſich dieſes mit dem gepfropften auch thun. Das Wenigſte alſo, was man aus den angefuͤhrten Beobachtungen ſchließen kann, iſt, daß neue organiſche Ganze durch die Vereinigung organiſcher Theile entſtehen koͤnnen, indem dieſe, jeder fuͤr ſich allein, ſich entwickeln und dann zuſammengehen. Es giebt alſo eine Art, wie organiſche Formen erzeuget werden, die ihr Daſeyn der Vereinigung mehrerer Fi- bern verdanken, und vorher nicht exiſtirt haben.
Dieſe angefuͤhrten Fakta ſind ſolche, welche zu der Jdee, daß neue Formen entſtehen, nothwendig hinfuͤh- ren. Die Menge der uͤbrigen, worauf große Natur- kuͤndiger ihren Begriff von der Epigeneſis gebauet ha- ben, ſind faſt alle von der Art, daß ſie zur Beſtaͤtigung deſſelbigen Begriffs zu gebrauchen ſind. Es mehret ſich die Anzahl der Falten, der Faͤcher und Abtheilungen in den Blaͤttern, wenn ſie auswachſen, und der Ringe an den Wuͤrmern, deren abgeſchnittene Enden wieder an- wachſen. *) Dieß wird zwar alles von Hr. Bonnet fuͤr nichts anders als fuͤr eine neue Entwickelung von Ringen angeſehen, wozu die Grundformen ſchon vor- handen waren; aber es iſt nirgends von ihm auf dieſe Art vollſtaͤndig erklaͤrt worden. Man begreift ihre
Entſte-
*)Bonnets Abhandl. aus der Jnſektologie von Hr. Goͤtze uͤberſetzt S. 196.
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und Entwickelung des Menſchen.
Die Erfahrung lehret, daß die Verbindung zwi-
ſchen zuſammengewachſenen Theilen an den Stellen, wo
ſie ſich vereiniget haben, oftmals ſtaͤrker iſt, als ſelbſt die
Theile, welche zuſammengewachſen ſind, an ſich waren.
Die Stelle des Bruchs an dem Knochen, wo die getrenn-
ten Theile wieder zuſammengebracht ſind, iſt ſo ſtark
und ſtaͤrker, als der Knochen vor dem Bruch an eben der
Stelle war. So wenig ein Zweig, der nicht gepfropfet
iſt, von dem Stamm abgeſondert werden kann, ohne
Zerreißung einiger Faſern, ſo wenig laͤßt ſich dieſes mit
dem gepfropften auch thun. Das Wenigſte alſo, was
man aus den angefuͤhrten Beobachtungen ſchließen kann,
iſt, daß neue organiſche Ganze durch die Vereinigung
organiſcher Theile entſtehen koͤnnen, indem dieſe, jeder
fuͤr ſich allein, ſich entwickeln und dann zuſammengehen.
Es giebt alſo eine Art, wie organiſche Formen erzeuget
werden, die ihr Daſeyn der Vereinigung mehrerer Fi-
bern verdanken, und vorher nicht exiſtirt haben.
Dieſe angefuͤhrten Fakta ſind ſolche, welche zu der
Jdee, daß neue Formen entſtehen, nothwendig hinfuͤh-
ren. Die Menge der uͤbrigen, worauf große Natur-
kuͤndiger ihren Begriff von der Epigeneſis gebauet ha-
ben, ſind faſt alle von der Art, daß ſie zur Beſtaͤtigung
deſſelbigen Begriffs zu gebrauchen ſind. Es mehret ſich
die Anzahl der Falten, der Faͤcher und Abtheilungen in
den Blaͤttern, wenn ſie auswachſen, und der Ringe an
den Wuͤrmern, deren abgeſchnittene Enden wieder an-
wachſen. *) Dieß wird zwar alles von Hr. Bonnet
fuͤr nichts anders als fuͤr eine neue Entwickelung von
Ringen angeſehen, wozu die Grundformen ſchon vor-
handen waren; aber es iſt nirgends von ihm auf dieſe
Art vollſtaͤndig erklaͤrt worden. Man begreift ihre
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*) Bonnets Abhandl. aus der Jnſektologie von Hr. Goͤtze
uͤberſetzt S. 196.
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 507. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/537>, abgerufen am 22.11.2024.
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