Die aristotelische Vorstellung von der Seele, daß sie wie eine tabula rasa sey, mochte Locke gegen Leib- nitzen insoweit vertheidigen können, als noch keine von den besondern Arten der Empfindungen und Eindrücke auf sie geschrieben sind, die sie nach der Geburt erst durch die äußern Sinne empfängt. Aber schwerlich läßt sich behaupten, daß sie nicht sollte eben so völlig bestimmt und modificirt seyn vor der Geburt, als sie nachher ist, und daß sie nicht schon Spuren von der Einwirkung der äußern Ursachen in sich aufbehalten habe, wie sie nachher aufnimmt. Wie weit aber ihre vorhergegan- genen embryonischen Gefühle oder Modifikationen und Bestimmungen eine Beziehung auf die nachfolgenden Empfindungen von Farben, Tönen, Geruchs-Ge- schmacks- und Gefühlsarten haben? wie ähnlich oder unähnlich jene diesen sind? und ob und wie viel etwan die Seele, mittelst ihrer innern, ihr angebornen Modi- fikationen, von der noch nöthigen Einwirkung der äußern Ursachen auf die Sinnglieder entbehren und solches aus sich ersetzen könne? ob und wieferne die vorzüglichen Anlagen zu einer oder der andern Gattung von Eindrü- cken und Empfindungen, von der Beziehung der em- bryonischen Veränderungen auf die nachherigen, abhange? dieß sind andere Fragen. Sie waren die wichtigsten in dem alten Streit über angeborne Jdeen, und sind doch am wenigsten erörtert worden. Endlich scheinen die von beiden Seiten angeführten Erfahrungen so viel in Gewißheit zu setzen, daß, wenn gleich die äußern Em- pfindungen schlechthin einen Einfluß der äußern Objekte erfodern, und also insoweit keinesweges angeboren sind, doch die Natur mittelst der vorhergehenden Mo- difikationen zu jenen vorbereitet und dazu aufgelegt ge- macht sey: imgleichen, daß die Verschiedenheit in den natürlichen Anlagen in jenen embryonischen Eindrücken zum Theil ihren Grund habe.
Was
IITheil. M m
und Entwickelung des Menſchen.
Die ariſtoteliſche Vorſtellung von der Seele, daß ſie wie eine tabula raſa ſey, mochte Locke gegen Leib- nitzen inſoweit vertheidigen koͤnnen, als noch keine von den beſondern Arten der Empfindungen und Eindruͤcke auf ſie geſchrieben ſind, die ſie nach der Geburt erſt durch die aͤußern Sinne empfaͤngt. Aber ſchwerlich laͤßt ſich behaupten, daß ſie nicht ſollte eben ſo voͤllig beſtimmt und modificirt ſeyn vor der Geburt, als ſie nachher iſt, und daß ſie nicht ſchon Spuren von der Einwirkung der aͤußern Urſachen in ſich aufbehalten habe, wie ſie nachher aufnimmt. Wie weit aber ihre vorhergegan- genen embryoniſchen Gefuͤhle oder Modifikationen und Beſtimmungen eine Beziehung auf die nachfolgenden Empfindungen von Farben, Toͤnen, Geruchs-Ge- ſchmacks- und Gefuͤhlsarten haben? wie aͤhnlich oder unaͤhnlich jene dieſen ſind? und ob und wie viel etwan die Seele, mittelſt ihrer innern, ihr angebornen Modi- fikationen, von der noch noͤthigen Einwirkung der aͤußern Urſachen auf die Sinnglieder entbehren und ſolches aus ſich erſetzen koͤnne? ob und wieferne die vorzuͤglichen Anlagen zu einer oder der andern Gattung von Eindruͤ- cken und Empfindungen, von der Beziehung der em- bryoniſchen Veraͤnderungen auf die nachherigen, abhange? dieß ſind andere Fragen. Sie waren die wichtigſten in dem alten Streit uͤber angeborne Jdeen, und ſind doch am wenigſten eroͤrtert worden. Endlich ſcheinen die von beiden Seiten angefuͤhrten Erfahrungen ſo viel in Gewißheit zu ſetzen, daß, wenn gleich die aͤußern Em- pfindungen ſchlechthin einen Einfluß der aͤußern Objekte erfodern, und alſo inſoweit keinesweges angeboren ſind, doch die Natur mittelſt der vorhergehenden Mo- difikationen zu jenen vorbereitet und dazu aufgelegt ge- macht ſey: imgleichen, daß die Verſchiedenheit in den natuͤrlichen Anlagen in jenen embryoniſchen Eindruͤcken zum Theil ihren Grund habe.
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und Entwickelung des Menſchen.
Die ariſtoteliſche Vorſtellung von der Seele, daß
ſie wie eine tabula raſa ſey, mochte Locke gegen Leib-
nitzen inſoweit vertheidigen koͤnnen, als noch keine von den
beſondern Arten der Empfindungen und Eindruͤcke auf
ſie geſchrieben ſind, die ſie nach der Geburt erſt durch
die aͤußern Sinne empfaͤngt. Aber ſchwerlich laͤßt ſich
behaupten, daß ſie nicht ſollte eben ſo voͤllig beſtimmt
und modificirt ſeyn vor der Geburt, als ſie nachher
iſt, und daß ſie nicht ſchon Spuren von der Einwirkung
der aͤußern Urſachen in ſich aufbehalten habe, wie ſie
nachher aufnimmt. Wie weit aber ihre vorhergegan-
genen embryoniſchen Gefuͤhle oder Modifikationen und
Beſtimmungen eine Beziehung auf die nachfolgenden
Empfindungen von Farben, Toͤnen, Geruchs-Ge-
ſchmacks- und Gefuͤhlsarten haben? wie aͤhnlich oder
unaͤhnlich jene dieſen ſind? und ob und wie viel etwan
die Seele, mittelſt ihrer innern, ihr angebornen Modi-
fikationen, von der noch noͤthigen Einwirkung der aͤußern
Urſachen auf die Sinnglieder entbehren und ſolches
aus ſich erſetzen koͤnne? ob und wieferne die vorzuͤglichen
Anlagen zu einer oder der andern Gattung von Eindruͤ-
cken und Empfindungen, von der Beziehung der em-
bryoniſchen Veraͤnderungen auf die nachherigen, abhange?
dieß ſind andere Fragen. Sie waren die wichtigſten
in dem alten Streit uͤber angeborne Jdeen, und ſind
doch am wenigſten eroͤrtert worden. Endlich ſcheinen
die von beiden Seiten angefuͤhrten Erfahrungen ſo viel
in Gewißheit zu ſetzen, daß, wenn gleich die aͤußern Em-
pfindungen ſchlechthin einen Einfluß der aͤußern Objekte
erfodern, und alſo inſoweit keinesweges angeboren
ſind, doch die Natur mittelſt der vorhergehenden Mo-
difikationen zu jenen vorbereitet und dazu aufgelegt ge-
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natuͤrlichen Anlagen in jenen embryoniſchen Eindruͤcken
zum Theil ihren Grund habe.
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 545. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/575>, abgerufen am 22.11.2024.
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