sie bewirkenden Ursachen nach | der Stärke ihres Ein- flusses bestimmt werden sollen. Denn sobald man durch die äußern Gestalten, welche die Hülle der innern Kräfte sind, hindurchsieht: so scheinet es, man finde den einen Menschen so wie den andern, und ihre Aehnlich- keit komme uns größer vor als ihre Unähnlichkeit, oder diese sey größer als jene, je nachdem man die eine oder die andere am lebhaftesten sich vorstellet, oder auch, je nach- dem man die Seite auswählt, von der man die Mensch- heit ansieht. Jndessen kömmt es doch hiebey am mei- sten auf Größen an, wenn man philosophisch über den relativen Werth der Menschen und ihre Vervollkomm- nung, wie über die Wichtigkeit der Mittel und Vorkeh- rungen zu dieser letztern urtheilen und, weil kein eigent- liches Messen möglich ist, zu einer vernünftigen Schä- tzung gelangen will. Die unendlich weitläustige Mate- rie über die wirklichen Verschiedenheiten in der Mensch- heit, die uns die Geschichte derselben sehen läßt, will ich hier nicht von neuem vornehmen. Meine Absicht ist nur gewisse bestimmte Grundsätze aufzusuchen, die, wie ich glaube, einigermaßen zur Richtschnur dienen können, wenn die Vergleichung zugleich mit einer vernünftigen Würdigung verbunden seyn soll.
Aber hiebey ist doch die alte, oft untersuchte, oft schon bejahete und oft wieder verneinte oder in Zweifel gezoge- ne, Frage nicht vorbeyzugehen: ob es eine angeborne Naturverschiedenheit gebe? ob es angeborne National- charaktere, und bey den Jndividuen eines Volks indi- viduelle Charaktere gebe? welche Verschiedenheiten in der Naturanlage sind, wenn man nämlich allein auf die Seelennatur Rücksicht nimmt? Denn in Hinsicht des Körpers müßte man der Erfahrung zu offenbar wider- sprechen, wenn man dem Mohrenkinde die angeborne Anlage zur schwarzen Farbe abläugnen wollte. Jn Hinsicht der Seele aber und ihrer Fähigkeiten hat Hel-
vetius
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſie bewirkenden Urſachen nach | der Staͤrke ihres Ein- fluſſes beſtimmt werden ſollen. Denn ſobald man durch die aͤußern Geſtalten, welche die Huͤlle der innern Kraͤfte ſind, hindurchſieht: ſo ſcheinet es, man finde den einen Menſchen ſo wie den andern, und ihre Aehnlich- keit komme uns groͤßer vor als ihre Unaͤhnlichkeit, oder dieſe ſey groͤßer als jene, je nachdem man die eine oder die andere am lebhafteſten ſich vorſtellet, oder auch, je nach- dem man die Seite auswaͤhlt, von der man die Menſch- heit anſieht. Jndeſſen koͤmmt es doch hiebey am mei- ſten auf Groͤßen an, wenn man philoſophiſch uͤber den relativen Werth der Menſchen und ihre Vervollkomm- nung, wie uͤber die Wichtigkeit der Mittel und Vorkeh- rungen zu dieſer letztern urtheilen und, weil kein eigent- liches Meſſen moͤglich iſt, zu einer vernuͤnftigen Schaͤ- tzung gelangen will. Die unendlich weitlaͤuſtige Mate- rie uͤber die wirklichen Verſchiedenheiten in der Menſch- heit, die uns die Geſchichte derſelben ſehen laͤßt, will ich hier nicht von neuem vornehmen. Meine Abſicht iſt nur gewiſſe beſtimmte Grundſaͤtze aufzuſuchen, die, wie ich glaube, einigermaßen zur Richtſchnur dienen koͤnnen, wenn die Vergleichung zugleich mit einer vernuͤnftigen Wuͤrdigung verbunden ſeyn ſoll.
Aber hiebey iſt doch die alte, oft unterſuchte, oft ſchon bejahete und oft wieder verneinte oder in Zweifel gezoge- ne, Frage nicht vorbeyzugehen: ob es eine angeborne Naturverſchiedenheit gebe? ob es angeborne National- charaktere, und bey den Jndividuen eines Volks indi- viduelle Charaktere gebe? welche Verſchiedenheiten in der Naturanlage ſind, wenn man naͤmlich allein auf die Seelennatur Ruͤckſicht nimmt? Denn in Hinſicht des Koͤrpers muͤßte man der Erfahrung zu offenbar wider- ſprechen, wenn man dem Mohrenkinde die angeborne Anlage zur ſchwarzen Farbe ablaͤugnen wollte. Jn Hinſicht der Seele aber und ihrer Faͤhigkeiten hat Hel-
vetius
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſie bewirkenden Urſachen nach | der Staͤrke ihres Ein-
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durch die aͤußern Geſtalten, welche die Huͤlle der innern
Kraͤfte ſind, hindurchſieht: ſo ſcheinet es, man finde den
einen Menſchen ſo wie den andern, und ihre Aehnlich-
keit komme uns groͤßer vor als ihre Unaͤhnlichkeit, oder
dieſe ſey groͤßer als jene, je nachdem man die eine oder die
andere am lebhafteſten ſich vorſtellet, oder auch, je nach-
dem man die Seite auswaͤhlt, von der man die Menſch-
heit anſieht. Jndeſſen koͤmmt es doch hiebey am mei-
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relativen Werth der Menſchen und ihre Vervollkomm-
nung, wie uͤber die Wichtigkeit der Mittel und Vorkeh-
rungen zu dieſer letztern urtheilen und, weil kein eigent-
liches Meſſen moͤglich iſt, zu einer vernuͤnftigen Schaͤ-
tzung gelangen will. Die unendlich weitlaͤuſtige Mate-
rie uͤber die wirklichen Verſchiedenheiten in der Menſch-
heit, die uns die Geſchichte derſelben ſehen laͤßt, will ich
hier nicht von neuem vornehmen. Meine Abſicht iſt nur
gewiſſe beſtimmte Grundſaͤtze aufzuſuchen, die, wie ich
glaube, einigermaßen zur Richtſchnur dienen koͤnnen,
wenn die Vergleichung zugleich mit einer vernuͤnftigen
Wuͤrdigung verbunden ſeyn ſoll.
Aber hiebey iſt doch die alte, oft unterſuchte, oft ſchon
bejahete und oft wieder verneinte oder in Zweifel gezoge-
ne, Frage nicht vorbeyzugehen: ob es eine angeborne
Naturverſchiedenheit gebe? ob es angeborne National-
charaktere, und bey den Jndividuen eines Volks indi-
viduelle Charaktere gebe? welche Verſchiedenheiten in
der Naturanlage ſind, wenn man naͤmlich allein auf die
Seelennatur Ruͤckſicht nimmt? Denn in Hinſicht des
Koͤrpers muͤßte man der Erfahrung zu offenbar wider-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 556. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/586>, abgerufen am 22.11.2024.
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