So viel muß zugegeben werden, und wird zugegeben, und so viel beweisen die Gründe aus der Erfahrung. Man könnte noch wohl etwas mehr einräumen, nämlich, daß der angeborne Unterschied der Seelen vielleicht un- ter den wilden und unkultivirten Völkern etwas gerin- ger sey, als unter den polizirten, wie die Farben der wilden Thiere von Einem Geschlecht einander ähnlich sind, wenn die zahmen hierinn sehr von einander abwei- chen. Aber dennoch führet die Erfahrung dahin, daß es bey jenen wie bey diesen Jndividuen gebe, die der Anlage nach Dummköpfe, Gecken und Schurken sind, wie natürliche Klugköpfe und Rechtschaffene. Wie weit diese natürlichen Anlagen gehen, ist eine andere Frage? Nur wenn man nichts mehr behauptet, als daß es überhaupt eine solche Verschiedenheit gebe, daß solche merklich sey und einen merklichen Einfluß in die Ausbildung des Menschen habe, so deucht mich, dieß sey nicht bloß wahrscheinlich, sondern auch gewiß.
Denn so ist erstlich die Analogie von der Verschie- denheit des Körpers ein ungemein wichtiger Grund, ei- ne ähnliche, wenn gleich etwas mindere, Ver- schiedenheit bey der Seele zu vermuthen.
Zweytens bestätigen die Erfahrungen aller derer, die sich mit der Erziehung und Ausbildung der Kinder beschäftigen, dasselbige. Vielleicht ist kein einziger un- ter ihnen, der sich nicht hievon überzeuget habe. Jch will mich nur auf die geschickten und eifrigen Erzieher berufen, die es sich recht angelegen seyn lassen, die be- sten Hülfsmittel der Erziehungskunst anzuwenden. Die Schwierigkeiten, die sie bey einzelnen Kindern an- treffen, gewisse Gefühle, Thätigkeiten und Gesinnun- gen aufzuwecken und zu stärken, welche doch bey andern von selbst hervorbrechen, dringet ihnen die Ueberzeu- gung ab, daß auf der natürlichen Anlage vieles beruhe; daß Naturell kein leeres Wort sey, sondern eine reele
Beschaf-
und Entwickelung des Menſchen.
So viel muß zugegeben werden, und wird zugegeben, und ſo viel beweiſen die Gruͤnde aus der Erfahrung. Man koͤnnte noch wohl etwas mehr einraͤumen, naͤmlich, daß der angeborne Unterſchied der Seelen vielleicht un- ter den wilden und unkultivirten Voͤlkern etwas gerin- ger ſey, als unter den polizirten, wie die Farben der wilden Thiere von Einem Geſchlecht einander aͤhnlich ſind, wenn die zahmen hierinn ſehr von einander abwei- chen. Aber dennoch fuͤhret die Erfahrung dahin, daß es bey jenen wie bey dieſen Jndividuen gebe, die der Anlage nach Dummkoͤpfe, Gecken und Schurken ſind, wie natuͤrliche Klugkoͤpfe und Rechtſchaffene. Wie weit dieſe natuͤrlichen Anlagen gehen, iſt eine andere Frage? Nur wenn man nichts mehr behauptet, als daß es uͤberhaupt eine ſolche Verſchiedenheit gebe, daß ſolche merklich ſey und einen merklichen Einfluß in die Ausbildung des Menſchen habe, ſo deucht mich, dieß ſey nicht bloß wahrſcheinlich, ſondern auch gewiß.
Denn ſo iſt erſtlich die Analogie von der Verſchie- denheit des Koͤrpers ein ungemein wichtiger Grund, ei- ne aͤhnliche, wenn gleich etwas mindere, Ver- ſchiedenheit bey der Seele zu vermuthen.
Zweytens beſtaͤtigen die Erfahrungen aller derer, die ſich mit der Erziehung und Ausbildung der Kinder beſchaͤftigen, daſſelbige. Vielleicht iſt kein einziger un- ter ihnen, der ſich nicht hievon uͤberzeuget habe. Jch will mich nur auf die geſchickten und eifrigen Erzieher berufen, die es ſich recht angelegen ſeyn laſſen, die be- ſten Huͤlfsmittel der Erziehungskunſt anzuwenden. Die Schwierigkeiten, die ſie bey einzelnen Kindern an- treffen, gewiſſe Gefuͤhle, Thaͤtigkeiten und Geſinnun- gen aufzuwecken und zu ſtaͤrken, welche doch bey andern von ſelbſt hervorbrechen, dringet ihnen die Ueberzeu- gung ab, daß auf der natuͤrlichen Anlage vieles beruhe; daß Naturell kein leeres Wort ſey, ſondern eine reele
Beſchaf-
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und Entwickelung des Menſchen.
So viel muß zugegeben werden, und wird zugegeben,
und ſo viel beweiſen die Gruͤnde aus der Erfahrung.
Man koͤnnte noch wohl etwas mehr einraͤumen, naͤmlich,
daß der angeborne Unterſchied der Seelen vielleicht un-
ter den wilden und unkultivirten Voͤlkern etwas gerin-
ger ſey, als unter den polizirten, wie die Farben der
wilden Thiere von Einem Geſchlecht einander aͤhnlich
ſind, wenn die zahmen hierinn ſehr von einander abwei-
chen. Aber dennoch fuͤhret die Erfahrung dahin, daß
es bey jenen wie bey dieſen Jndividuen gebe, die der
Anlage nach Dummkoͤpfe, Gecken und Schurken ſind,
wie natuͤrliche Klugkoͤpfe und Rechtſchaffene. Wie
weit dieſe natuͤrlichen Anlagen gehen, iſt eine andere
Frage? Nur wenn man nichts mehr behauptet, als
daß es uͤberhaupt eine ſolche Verſchiedenheit gebe, daß
ſolche merklich ſey und einen merklichen Einfluß in
die Ausbildung des Menſchen habe, ſo deucht mich,
dieß ſey nicht bloß wahrſcheinlich, ſondern auch gewiß.
Denn ſo iſt erſtlich die Analogie von der Verſchie-
denheit des Koͤrpers ein ungemein wichtiger Grund, ei-
ne aͤhnliche, wenn gleich etwas mindere, Ver-
ſchiedenheit bey der Seele zu vermuthen.
Zweytens beſtaͤtigen die Erfahrungen aller derer,
die ſich mit der Erziehung und Ausbildung der Kinder
beſchaͤftigen, daſſelbige. Vielleicht iſt kein einziger un-
ter ihnen, der ſich nicht hievon uͤberzeuget habe. Jch
will mich nur auf die geſchickten und eifrigen Erzieher
berufen, die es ſich recht angelegen ſeyn laſſen, die be-
ſten Huͤlfsmittel der Erziehungskunſt anzuwenden.
Die Schwierigkeiten, die ſie bey einzelnen Kindern an-
treffen, gewiſſe Gefuͤhle, Thaͤtigkeiten und Geſinnun-
gen aufzuwecken und zu ſtaͤrken, welche doch bey andern
von ſelbſt hervorbrechen, dringet ihnen die Ueberzeu-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 559. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/589>, abgerufen am 22.11.2024.
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