einer Seite herunter steiget, so bedarf es auch nur eines kleinen Gegengewichts an der entgegengesetzten, um sie zurückzuhalten, und wieder in die Höhe zu bringen. Doch bitte ich, dieß Gleichniß nicht über seine Absicht auszudehnen.
Die Unabhängigkeit ist zur Freyheit erfoderlich. Aber sie ist nur eine Beschaffenheit der freyen Kraft. Nach der Größe von jener kann wohl die Freyheit als Freyheit, aber nicht die ganze Größe der freywir- kenden Kraft geschätzt werden. Die unabhängige Kraft kann eine auf wenige Handlungen und zu schwa- chen Aeußerungen aufgelegte Kraft seyn. Jch will nicht sagen, daß diese Anmerkung sehr viel auf sich habe, aber mich deucht doch, daß sie von verschiedenen nicht genug in Betracht gezogen wird, wenn sie die Größe der Frey- heit in dem unkultivirten Zustande wilder Völker mit der Freyheit des Bürgers in den polizirten Nationen zu ver- gleichen suchen. Der Wilde ist von Gesetzen und Men- schen unabhängiger, als der Kultivirte. Das mag seyn. Aber besitzet er überhaupt so viele freywirkende Vermö- gen in Hinficht auf andere Menschen zu handeln, die aus der Gesellschaft entspringen, als in polizirten Staaten, wo die Verbindungen und Beziehungen der Menschen mit und auf Menschen verwickelter sind, und also meh- rere und mannigfaltigere Vermögen außer sich in Hin- sicht auf andere zu handeln entwickelt werden? Man müßte wenigstens, um die Vergleichung richtig anzu- stellen, zuerst fest setzen, wie viele und wie große äußere Handlungen das sind, über die der Bürger der einge- richteten Gesellschaften Herr ist, und diese mit der gan- zen Größe und Menge derer, worüber er es ist außer der Gesellschaft und in dem Stande der Wildheit, verglei- chen. Was hilfts ihm, wenn er hier Herr über alle ist; aber nur wenige besitzt? Vielleicht ist er ein unabhängi-
ger
XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
einer Seite herunter ſteiget, ſo bedarf es auch nur eines kleinen Gegengewichts an der entgegengeſetzten, um ſie zuruͤckzuhalten, und wieder in die Hoͤhe zu bringen. Doch bitte ich, dieß Gleichniß nicht uͤber ſeine Abſicht auszudehnen.
Die Unabhaͤngigkeit iſt zur Freyheit erfoderlich. Aber ſie iſt nur eine Beſchaffenheit der freyen Kraft. Nach der Groͤße von jener kann wohl die Freyheit als Freyheit, aber nicht die ganze Groͤße der freywir- kenden Kraft geſchaͤtzt werden. Die unabhaͤngige Kraft kann eine auf wenige Handlungen und zu ſchwa- chen Aeußerungen aufgelegte Kraft ſeyn. Jch will nicht ſagen, daß dieſe Anmerkung ſehr viel auf ſich habe, aber mich deucht doch, daß ſie von verſchiedenen nicht genug in Betracht gezogen wird, wenn ſie die Groͤße der Frey- heit in dem unkultivirten Zuſtande wilder Voͤlker mit der Freyheit des Buͤrgers in den polizirten Nationen zu ver- gleichen ſuchen. Der Wilde iſt von Geſetzen und Men- ſchen unabhaͤngiger, als der Kultivirte. Das mag ſeyn. Aber beſitzet er uͤberhaupt ſo viele freywirkende Vermoͤ- gen in Hinficht auf andere Menſchen zu handeln, die aus der Geſellſchaft entſpringen, als in polizirten Staaten, wo die Verbindungen und Beziehungen der Menſchen mit und auf Menſchen verwickelter ſind, und alſo meh- rere und mannigfaltigere Vermoͤgen außer ſich in Hin- ſicht auf andere zu handeln entwickelt werden? Man muͤßte wenigſtens, um die Vergleichung richtig anzu- ſtellen, zuerſt feſt ſetzen, wie viele und wie große aͤußere Handlungen das ſind, uͤber die der Buͤrger der einge- richteten Geſellſchaften Herr iſt, und dieſe mit der gan- zen Groͤße und Menge derer, woruͤber er es iſt außer der Geſellſchaft und in dem Stande der Wildheit, verglei- chen. Was hilfts ihm, wenn er hier Herr uͤber alle iſt; aber nur wenige beſitzt? Vielleicht iſt er ein unabhaͤngi-
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XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
einer Seite herunter ſteiget, ſo bedarf es auch nur eines
kleinen Gegengewichts an der entgegengeſetzten, um ſie
zuruͤckzuhalten, und wieder in die Hoͤhe zu bringen.
Doch bitte ich, dieß Gleichniß nicht uͤber ſeine Abſicht
auszudehnen.
Die Unabhaͤngigkeit iſt zur Freyheit erfoderlich.
Aber ſie iſt nur eine Beſchaffenheit der freyen Kraft.
Nach der Groͤße von jener kann wohl die Freyheit als
Freyheit, aber nicht die ganze Groͤße der freywir-
kenden Kraft geſchaͤtzt werden. Die unabhaͤngige
Kraft kann eine auf wenige Handlungen und zu ſchwa-
chen Aeußerungen aufgelegte Kraft ſeyn. Jch will nicht
ſagen, daß dieſe Anmerkung ſehr viel auf ſich habe, aber
mich deucht doch, daß ſie von verſchiedenen nicht genug
in Betracht gezogen wird, wenn ſie die Groͤße der Frey-
heit in dem unkultivirten Zuſtande wilder Voͤlker mit der
Freyheit des Buͤrgers in den polizirten Nationen zu ver-
gleichen ſuchen. Der Wilde iſt von Geſetzen und Men-
ſchen unabhaͤngiger, als der Kultivirte. Das mag ſeyn.
Aber beſitzet er uͤberhaupt ſo viele freywirkende Vermoͤ-
gen in Hinficht auf andere Menſchen zu handeln, die aus
der Geſellſchaft entſpringen, als in polizirten Staaten,
wo die Verbindungen und Beziehungen der Menſchen
mit und auf Menſchen verwickelter ſind, und alſo meh-
rere und mannigfaltigere Vermoͤgen außer ſich in Hin-
ſicht auf andere zu handeln entwickelt werden? Man
muͤßte wenigſtens, um die Vergleichung richtig anzu-
ſtellen, zuerſt feſt ſetzen, wie viele und wie große aͤußere
Handlungen das ſind, uͤber die der Buͤrger der einge-
richteten Geſellſchaften Herr iſt, und dieſe mit der gan-
zen Groͤße und Menge derer, woruͤber er es iſt außer der
Geſellſchaft und in dem Stande der Wildheit, verglei-
chen. Was hilfts ihm, wenn er hier Herr uͤber alle iſt;
aber nur wenige beſitzt? Vielleicht iſt er ein unabhaͤngi-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/60>, abgerufen am 16.02.2025.
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