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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
viel nicht vermag, wenn wir mit Vorsatz und Fleiß sie
anstrengen. Wenn die Phantasie so thierisch wirkt,
als sie im Nachbilden wirkt, so wird sie gewiß nicht
von Willkür regiert. Sie ist alsdenn Jnstinkt, und
wirket wie die Kraft der Nerven von selbst, auf welche
Ueberlegung und Eigenwille nicht anders als nur in der
Ferne und sehr mittelbar etwas ausrichten kann.

Aus dem Einflusse dieser innern Ursache werden
wiederum andere Phänomenen in der Geschichte der
Menschheit begreiflich. Warum erhalten sich dieselbi-
gen Charaktere eines Volks, welche zuerst durch äußere
physische Ursachen entstanden sind, unter Umständen, die
jenen Ursachen entgegenwirken? Home schloß so:
da die Negern in dem kältern Nordamerika ihre Farbe
behalten, so müssen sie ein eigenes verschiedenes Men-
schengeschlecht seyn. Aber nicht zu sagen, daß aller-
dings die einmal festgesetzte Schwärze für sich selbst
schon, einige Generationen durch, der Natur noch an-
kleben muß, so ist es ein großer Unterschied, ob eine
Menge von Schwarzen untereinander bleiben, oder ob
sie bey einzelnen Paaren unter lauter Weiße zerstreuet
werden? Sie können viele Jahrhunderte durch unver-
ändert sich erhalten, wann sie beysammen sind; dage-
gen wenn jedes Paar abgesondert würde, und jedes neue
Paar Kinder, die vom neuen verbunden werden sollten,
von Geburt an nur lauter Europäer um sich sähen;
und wäre ein solcher Versuch durch mehrere Generatio-
nen fortgesetzt worden: so wäre die Frage, ob sie nicht
fast eben so geschwind in vollkommene Europäer in
der fünften oder sechsten Generation übergehen möchten,
als es geschieht, wenn die Samenvermischung mit den
Europäern dazu kommt? Daß die Samenvermischung
hiezu ganz unentbehrlich sey, hat Hr. Home nicht be-
wiesen. Und doch ist es begreiflich, wie die Farbe
ohne selbige sich so lange unter den Negern in Nordame-

rika

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
viel nicht vermag, wenn wir mit Vorſatz und Fleiß ſie
anſtrengen. Wenn die Phantaſie ſo thieriſch wirkt,
als ſie im Nachbilden wirkt, ſo wird ſie gewiß nicht
von Willkuͤr regiert. Sie iſt alsdenn Jnſtinkt, und
wirket wie die Kraft der Nerven von ſelbſt, auf welche
Ueberlegung und Eigenwille nicht anders als nur in der
Ferne und ſehr mittelbar etwas ausrichten kann.

Aus dem Einfluſſe dieſer innern Urſache werden
wiederum andere Phaͤnomenen in der Geſchichte der
Menſchheit begreiflich. Warum erhalten ſich dieſelbi-
gen Charaktere eines Volks, welche zuerſt durch aͤußere
phyſiſche Urſachen entſtanden ſind, unter Umſtaͤnden, die
jenen Urſachen entgegenwirken? Home ſchloß ſo:
da die Negern in dem kaͤltern Nordamerika ihre Farbe
behalten, ſo muͤſſen ſie ein eigenes verſchiedenes Men-
ſchengeſchlecht ſeyn. Aber nicht zu ſagen, daß aller-
dings die einmal feſtgeſetzte Schwaͤrze fuͤr ſich ſelbſt
ſchon, einige Generationen durch, der Natur noch an-
kleben muß, ſo iſt es ein großer Unterſchied, ob eine
Menge von Schwarzen untereinander bleiben, oder ob
ſie bey einzelnen Paaren unter lauter Weiße zerſtreuet
werden? Sie koͤnnen viele Jahrhunderte durch unver-
aͤndert ſich erhalten, wann ſie beyſammen ſind; dage-
gen wenn jedes Paar abgeſondert wuͤrde, und jedes neue
Paar Kinder, die vom neuen verbunden werden ſollten,
von Geburt an nur lauter Europaͤer um ſich ſaͤhen;
und waͤre ein ſolcher Verſuch durch mehrere Generatio-
nen fortgeſetzt worden: ſo waͤre die Frage, ob ſie nicht
faſt eben ſo geſchwind in vollkommene Europaͤer in
der fuͤnften oder ſechſten Generation uͤbergehen moͤchten,
als es geſchieht, wenn die Samenvermiſchung mit den
Europaͤern dazu kommt? Daß die Samenvermiſchung
hiezu ganz unentbehrlich ſey, hat Hr. Home nicht be-
wieſen. Und doch iſt es begreiflich, wie die Farbe
ohne ſelbige ſich ſo lange unter den Negern in Nordame-

rika
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[580/0610] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt viel nicht vermag, wenn wir mit Vorſatz und Fleiß ſie anſtrengen. Wenn die Phantaſie ſo thieriſch wirkt, als ſie im Nachbilden wirkt, ſo wird ſie gewiß nicht von Willkuͤr regiert. Sie iſt alsdenn Jnſtinkt, und wirket wie die Kraft der Nerven von ſelbſt, auf welche Ueberlegung und Eigenwille nicht anders als nur in der Ferne und ſehr mittelbar etwas ausrichten kann. Aus dem Einfluſſe dieſer innern Urſache werden wiederum andere Phaͤnomenen in der Geſchichte der Menſchheit begreiflich. Warum erhalten ſich dieſelbi- gen Charaktere eines Volks, welche zuerſt durch aͤußere phyſiſche Urſachen entſtanden ſind, unter Umſtaͤnden, die jenen Urſachen entgegenwirken? Home ſchloß ſo: da die Negern in dem kaͤltern Nordamerika ihre Farbe behalten, ſo muͤſſen ſie ein eigenes verſchiedenes Men- ſchengeſchlecht ſeyn. Aber nicht zu ſagen, daß aller- dings die einmal feſtgeſetzte Schwaͤrze fuͤr ſich ſelbſt ſchon, einige Generationen durch, der Natur noch an- kleben muß, ſo iſt es ein großer Unterſchied, ob eine Menge von Schwarzen untereinander bleiben, oder ob ſie bey einzelnen Paaren unter lauter Weiße zerſtreuet werden? Sie koͤnnen viele Jahrhunderte durch unver- aͤndert ſich erhalten, wann ſie beyſammen ſind; dage- gen wenn jedes Paar abgeſondert wuͤrde, und jedes neue Paar Kinder, die vom neuen verbunden werden ſollten, von Geburt an nur lauter Europaͤer um ſich ſaͤhen; und waͤre ein ſolcher Verſuch durch mehrere Generatio- nen fortgeſetzt worden: ſo waͤre die Frage, ob ſie nicht faſt eben ſo geſchwind in vollkommene Europaͤer in der fuͤnften oder ſechſten Generation uͤbergehen moͤchten, als es geſchieht, wenn die Samenvermiſchung mit den Europaͤern dazu kommt? Daß die Samenvermiſchung hiezu ganz unentbehrlich ſey, hat Hr. Home nicht be- wieſen. Und doch iſt es begreiflich, wie die Farbe ohne ſelbige ſich ſo lange unter den Negern in Nordame- rika

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 580. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/610>, abgerufen am 22.11.2024.