Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIV. Vers. Ueber die Perfektibiliät
Hinsicht der übrigen Vermögen auf eine ähnliche Folge-
rung. Auch diese müssen erhöhet worden seyn, wenn
schon in einem mindern Grade? Sind sie in dem neu-
gebornen Kinde nicht so weit gekommen als das Vermö-
gen zu Saugen, so werden doch andere Aeußerungen
von ihnen vorhanden seyn, auch wenn sie zu schwach
sind, um von uns bey den Kindern bemerkt zu werden.

Wenn wir mehrere Gelegenheiten hätten den Men-
schen kennen zu lernen, wie er außer der Gesellschaft
mit seines Gleichen entwickelt wird, wie wir, die
wenigen, auch nicht einmal scharf genug beobachteten,
Fälle von den unter Thieren wild gewordenen Kindern
ausgenommen, nicht haben: so würden wir aus der
Erfahrung es besser geradezu beurtheilen können, was
und wie viel seine Natur für sich allein vermöge. Denn
in diesen Umständen fallen die Wirkungen des Beyspiels
von andern Menschen und der Erziehung gänzlich weg;
und bloß die Wirkungen der Natur und des physischen
Einflusses der äußern Dinge bleiben übrig. Jndessen
können die genauen Beobachtungen der Taubstummen,
denen man eine Sprache beybringet, mit den übrigen
Faktis, die man hat, zusammengenommen, einigermas-
sen diesen Mangel ersetzen. Und wenn alsdenn noch von
demjenigen Gebrauch gemacht wird, was die Verglei-
chung und Auflösung der menschlichen Naturkräfte leh-
ret: so ist es außer Zweifel, daß die Grundvermögen, das
Gefühl, die Vorstellungskraft und die Denkkraft, wie
auch die Triebe zur Erhaltung, der Wehrtrieb, der Ver-
mehrungstrieb und der Hang zur Geselligkeit für bloße
Wirkungen der Natur zu halten sind, die keine Kunst
und keine Erziehung einpfropfen würde, wenn sie nicht
aus dem innern Princip von selbst hervorsprössen. Sie
sind Naturtriebe, die zwar durch den Einfluß der äußern
Umstände mehr oder minder gedrücket, |zurückgehalten
oder befördert, und geschwinder zur Ausbildung ge-

bracht,

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibiliaͤt
Hinſicht der uͤbrigen Vermoͤgen auf eine aͤhnliche Folge-
rung. Auch dieſe muͤſſen erhoͤhet worden ſeyn, wenn
ſchon in einem mindern Grade? Sind ſie in dem neu-
gebornen Kinde nicht ſo weit gekommen als das Vermoͤ-
gen zu Saugen, ſo werden doch andere Aeußerungen
von ihnen vorhanden ſeyn, auch wenn ſie zu ſchwach
ſind, um von uns bey den Kindern bemerkt zu werden.

Wenn wir mehrere Gelegenheiten haͤtten den Men-
ſchen kennen zu lernen, wie er außer der Geſellſchaft
mit ſeines Gleichen entwickelt wird, wie wir, die
wenigen, auch nicht einmal ſcharf genug beobachteten,
Faͤlle von den unter Thieren wild gewordenen Kindern
ausgenommen, nicht haben: ſo wuͤrden wir aus der
Erfahrung es beſſer geradezu beurtheilen koͤnnen, was
und wie viel ſeine Natur fuͤr ſich allein vermoͤge. Denn
in dieſen Umſtaͤnden fallen die Wirkungen des Beyſpiels
von andern Menſchen und der Erziehung gaͤnzlich weg;
und bloß die Wirkungen der Natur und des phyſiſchen
Einfluſſes der aͤußern Dinge bleiben uͤbrig. Jndeſſen
koͤnnen die genauen Beobachtungen der Taubſtummen,
denen man eine Sprache beybringet, mit den uͤbrigen
Faktis, die man hat, zuſammengenommen, einigermaſ-
ſen dieſen Mangel erſetzen. Und wenn alsdenn noch von
demjenigen Gebrauch gemacht wird, was die Verglei-
chung und Aufloͤſung der menſchlichen Naturkraͤfte leh-
ret: ſo iſt es außer Zweifel, daß die Grundvermoͤgen, das
Gefuͤhl, die Vorſtellungskraft und die Denkkraft, wie
auch die Triebe zur Erhaltung, der Wehrtrieb, der Ver-
mehrungstrieb und der Hang zur Geſelligkeit fuͤr bloße
Wirkungen der Natur zu halten ſind, die keine Kunſt
und keine Erziehung einpfropfen wuͤrde, wenn ſie nicht
aus dem innern Princip von ſelbſt hervorſproͤſſen. Sie
ſind Naturtriebe, die zwar durch den Einfluß der aͤußern
Umſtaͤnde mehr oder minder gedruͤcket, |zuruͤckgehalten
oder befoͤrdert, und geſchwinder zur Ausbildung ge-

bracht,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0620" n="590"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ver&#x017F;. Ueber die Perfektibilia&#x0364;t</hi></fw><lb/>
Hin&#x017F;icht der u&#x0364;brigen Vermo&#x0364;gen auf eine a&#x0364;hnliche Folge-<lb/>
rung. Auch die&#x017F;e mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en erho&#x0364;het worden &#x017F;eyn, wenn<lb/>
&#x017F;chon in einem mindern Grade? Sind &#x017F;ie in dem neu-<lb/>
gebornen Kinde nicht &#x017F;o weit gekommen als das Vermo&#x0364;-<lb/>
gen zu Saugen, &#x017F;o werden doch andere Aeußerungen<lb/>
von ihnen vorhanden &#x017F;eyn, auch wenn &#x017F;ie zu &#x017F;chwach<lb/>
&#x017F;ind, um von uns bey den Kindern bemerkt zu werden.</p><lb/>
              <p>Wenn wir mehrere Gelegenheiten ha&#x0364;tten den Men-<lb/>
&#x017F;chen kennen zu lernen, wie er außer der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft<lb/>
mit &#x017F;eines Gleichen entwickelt wird, wie wir, die<lb/>
wenigen, auch nicht einmal &#x017F;charf genug beobachteten,<lb/>
Fa&#x0364;lle von den unter Thieren wild gewordenen Kindern<lb/>
ausgenommen, nicht haben: &#x017F;o wu&#x0364;rden wir aus der<lb/>
Erfahrung es be&#x017F;&#x017F;er geradezu beurtheilen ko&#x0364;nnen, was<lb/>
und wie viel &#x017F;eine Natur fu&#x0364;r &#x017F;ich allein vermo&#x0364;ge. Denn<lb/>
in die&#x017F;en Um&#x017F;ta&#x0364;nden fallen die Wirkungen des Bey&#x017F;piels<lb/>
von andern Men&#x017F;chen und der Erziehung ga&#x0364;nzlich weg;<lb/>
und bloß die Wirkungen der Natur und des phy&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
Einflu&#x017F;&#x017F;es der a&#x0364;ußern Dinge bleiben u&#x0364;brig. Jnde&#x017F;&#x017F;en<lb/>
ko&#x0364;nnen die genauen Beobachtungen der Taub&#x017F;tummen,<lb/>
denen man eine Sprache beybringet, mit den u&#x0364;brigen<lb/>
Faktis, die man hat, zu&#x017F;ammengenommen, einigerma&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en die&#x017F;en Mangel er&#x017F;etzen. Und wenn alsdenn noch von<lb/>
demjenigen Gebrauch gemacht wird, was die Verglei-<lb/>
chung und Auflo&#x0364;&#x017F;ung der men&#x017F;chlichen Naturkra&#x0364;fte leh-<lb/>
ret: &#x017F;o i&#x017F;t es außer Zweifel, daß die Grundvermo&#x0364;gen, das<lb/>
Gefu&#x0364;hl, die Vor&#x017F;tellungskraft und die Denkkraft, wie<lb/>
auch die Triebe zur Erhaltung, der Wehrtrieb, der Ver-<lb/>
mehrungstrieb und der Hang zur Ge&#x017F;elligkeit fu&#x0364;r bloße<lb/>
Wirkungen der Natur zu halten &#x017F;ind, die keine Kun&#x017F;t<lb/>
und keine Erziehung einpfropfen wu&#x0364;rde, wenn &#x017F;ie nicht<lb/>
aus dem innern Princip von &#x017F;elb&#x017F;t hervor&#x017F;pro&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. Sie<lb/>
&#x017F;ind Naturtriebe, die zwar durch den Einfluß der a&#x0364;ußern<lb/>
Um&#x017F;ta&#x0364;nde mehr oder minder gedru&#x0364;cket, |zuru&#x0364;ckgehalten<lb/>
oder befo&#x0364;rdert, und ge&#x017F;chwinder zur Ausbildung ge-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">bracht,</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[590/0620] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibiliaͤt Hinſicht der uͤbrigen Vermoͤgen auf eine aͤhnliche Folge- rung. Auch dieſe muͤſſen erhoͤhet worden ſeyn, wenn ſchon in einem mindern Grade? Sind ſie in dem neu- gebornen Kinde nicht ſo weit gekommen als das Vermoͤ- gen zu Saugen, ſo werden doch andere Aeußerungen von ihnen vorhanden ſeyn, auch wenn ſie zu ſchwach ſind, um von uns bey den Kindern bemerkt zu werden. Wenn wir mehrere Gelegenheiten haͤtten den Men- ſchen kennen zu lernen, wie er außer der Geſellſchaft mit ſeines Gleichen entwickelt wird, wie wir, die wenigen, auch nicht einmal ſcharf genug beobachteten, Faͤlle von den unter Thieren wild gewordenen Kindern ausgenommen, nicht haben: ſo wuͤrden wir aus der Erfahrung es beſſer geradezu beurtheilen koͤnnen, was und wie viel ſeine Natur fuͤr ſich allein vermoͤge. Denn in dieſen Umſtaͤnden fallen die Wirkungen des Beyſpiels von andern Menſchen und der Erziehung gaͤnzlich weg; und bloß die Wirkungen der Natur und des phyſiſchen Einfluſſes der aͤußern Dinge bleiben uͤbrig. Jndeſſen koͤnnen die genauen Beobachtungen der Taubſtummen, denen man eine Sprache beybringet, mit den uͤbrigen Faktis, die man hat, zuſammengenommen, einigermaſ- ſen dieſen Mangel erſetzen. Und wenn alsdenn noch von demjenigen Gebrauch gemacht wird, was die Verglei- chung und Aufloͤſung der menſchlichen Naturkraͤfte leh- ret: ſo iſt es außer Zweifel, daß die Grundvermoͤgen, das Gefuͤhl, die Vorſtellungskraft und die Denkkraft, wie auch die Triebe zur Erhaltung, der Wehrtrieb, der Ver- mehrungstrieb und der Hang zur Geſelligkeit fuͤr bloße Wirkungen der Natur zu halten ſind, die keine Kunſt und keine Erziehung einpfropfen wuͤrde, wenn ſie nicht aus dem innern Princip von ſelbſt hervorſproͤſſen. Sie ſind Naturtriebe, die zwar durch den Einfluß der aͤußern Umſtaͤnde mehr oder minder gedruͤcket, |zuruͤckgehalten oder befoͤrdert, und geſchwinder zur Ausbildung ge- bracht,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/620
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 590. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/620>, abgerufen am 22.11.2024.