beiten, angeboren, woraus die verschiedenen Verhältnisse in der Empfindsamkeit, in der Einbildungskraft, in dem Verstande, in dem Mitgefühl und in den Thätigkeitstrie- ben und ihren Beziehungen auf einander entspringen. Mehr als nur gewisse Stufen und Grade in den Ver- mögen kann man nicht für Natur halten. Der Tatar ist kein geborner Reuter, der Britte kein geborner See- fahrer, und der Wilde kein geborner Schwimmer oder Jäger, und kein Genie ist es von Natur in einer an- dern Hinsicht, als der vorzüglichen Aufgelegtheit wegen so etwas zu werden.
So viel glaube ich, könne man aus der Geschichte der Menschheit jetzo als völlig bestätiget abziehen. Wenn gleich der natürliche Charakter sowohl in Hinsicht des Gemeinschaftlichen, das zum Charakter des Volks ge- höret, als auch in Hinsicht der individuellen Eigenhei- ten, bey einigen Jndividuen ohne Zweifel stärker und fester gezeichnet ist als bey andern: so ist doch "die "Naturanlage nie so stark und so hervordringend und in- "stinktartig, daß sie nicht durch die vereinigte Wirkung "der physischen Umstände, der Beyspiele und der Er- "ziehung geändert und wenigstens bis zum Unbemerk- "baren heruntergesetzt werden könne, wenn nämlich "alle diese äußern Ursachen der natürlichen Disposition "entgegen sind." Es giebt wohl keinen Menschen von einem so hohen Muthe, der nicht ein Feiger und Nie- derträchtiger hätte werden können, wenn er von der Kindheit an ein Negersklave gewesen, und mit Krank- heiten des Körpers geplaget, unter Mangel und Elend in der Gesellschaft von gleich Elenden, sein Daseyn hät- te fortschleppen müssen? Karl des zwölften unbezwing- baren Sinn brach ein Wundfieber auf seiner Flucht nach Bender. Was würde aus einem Keime des Leibnitz geworden seyn, wenn er in der Einsamkeit auf einer Jnsel, wie Selkirk, erwachsen wäre? Wenn
man
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
beiten, angeboren, woraus die verſchiedenen Verhaͤltniſſe in der Empfindſamkeit, in der Einbildungskraft, in dem Verſtande, in dem Mitgefuͤhl und in den Thaͤtigkeitstrie- ben und ihren Beziehungen auf einander entſpringen. Mehr als nur gewiſſe Stufen und Grade in den Ver- moͤgen kann man nicht fuͤr Natur halten. Der Tatar iſt kein geborner Reuter, der Britte kein geborner See- fahrer, und der Wilde kein geborner Schwimmer oder Jaͤger, und kein Genie iſt es von Natur in einer an- dern Hinſicht, als der vorzuͤglichen Aufgelegtheit wegen ſo etwas zu werden.
So viel glaube ich, koͤnne man aus der Geſchichte der Menſchheit jetzo als voͤllig beſtaͤtiget abziehen. Wenn gleich der natuͤrliche Charakter ſowohl in Hinſicht des Gemeinſchaftlichen, das zum Charakter des Volks ge- hoͤret, als auch in Hinſicht der individuellen Eigenhei- ten, bey einigen Jndividuen ohne Zweifel ſtaͤrker und feſter gezeichnet iſt als bey andern: ſo iſt doch „die „Naturanlage nie ſo ſtark und ſo hervordringend und in- „ſtinktartig, daß ſie nicht durch die vereinigte Wirkung „der phyſiſchen Umſtaͤnde, der Beyſpiele und der Er- „ziehung geaͤndert und wenigſtens bis zum Unbemerk- „baren heruntergeſetzt werden koͤnne, wenn naͤmlich „alle dieſe aͤußern Urſachen der natuͤrlichen Diſpoſition „entgegen ſind.‟ Es giebt wohl keinen Menſchen von einem ſo hohen Muthe, der nicht ein Feiger und Nie- dertraͤchtiger haͤtte werden koͤnnen, wenn er von der Kindheit an ein Negerſklave geweſen, und mit Krank- heiten des Koͤrpers geplaget, unter Mangel und Elend in der Geſellſchaft von gleich Elenden, ſein Daſeyn haͤt- te fortſchleppen muͤſſen? Karl des zwoͤlften unbezwing- baren Sinn brach ein Wundfieber auf ſeiner Flucht nach Bender. Was wuͤrde aus einem Keime des Leibnitz geworden ſeyn, wenn er in der Einſamkeit auf einer Jnſel, wie Selkirk, erwachſen waͤre? Wenn
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
beiten, angeboren, woraus die verſchiedenen Verhaͤltniſſe
in der Empfindſamkeit, in der Einbildungskraft, in dem
Verſtande, in dem Mitgefuͤhl und in den Thaͤtigkeitstrie-
ben und ihren Beziehungen auf einander entſpringen.
Mehr als nur gewiſſe Stufen und Grade in den Ver-
moͤgen kann man nicht fuͤr Natur halten. Der Tatar
iſt kein geborner Reuter, der Britte kein geborner See-
fahrer, und der Wilde kein geborner Schwimmer oder
Jaͤger, und kein Genie iſt es von Natur in einer an-
dern Hinſicht, als der vorzuͤglichen Aufgelegtheit wegen
ſo etwas zu werden.
So viel glaube ich, koͤnne man aus der Geſchichte
der Menſchheit jetzo als voͤllig beſtaͤtiget abziehen. Wenn
gleich der natuͤrliche Charakter ſowohl in Hinſicht des
Gemeinſchaftlichen, das zum Charakter des Volks ge-
hoͤret, als auch in Hinſicht der individuellen Eigenhei-
ten, bey einigen Jndividuen ohne Zweifel ſtaͤrker und
feſter gezeichnet iſt als bey andern: ſo iſt doch „die
„Naturanlage nie ſo ſtark und ſo hervordringend und in-
„ſtinktartig, daß ſie nicht durch die vereinigte Wirkung
„der phyſiſchen Umſtaͤnde, der Beyſpiele und der Er-
„ziehung geaͤndert und wenigſtens bis zum Unbemerk-
„baren heruntergeſetzt werden koͤnne, wenn naͤmlich
„alle dieſe aͤußern Urſachen der natuͤrlichen Diſpoſition
„entgegen ſind.‟ Es giebt wohl keinen Menſchen von
einem ſo hohen Muthe, der nicht ein Feiger und Nie-
dertraͤchtiger haͤtte werden koͤnnen, wenn er von der
Kindheit an ein Negerſklave geweſen, und mit Krank-
heiten des Koͤrpers geplaget, unter Mangel und Elend
in der Geſellſchaft von gleich Elenden, ſein Daſeyn haͤt-
te fortſchleppen muͤſſen? Karl des zwoͤlften unbezwing-
baren Sinn brach ein Wundfieber auf ſeiner Flucht
nach Bender. Was wuͤrde aus einem Keime des
Leibnitz geworden ſeyn, wenn er in der Einſamkeit auf
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 592. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/622>, abgerufen am 22.11.2024.
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