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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Freyheit.
Blödsinnige, Schlafende, Nachtwanderer, Betrun-
kene und alle solche, bey denen die Vernunft alsdenn,
wenn sie etwas unternehmen, sich nicht wirksam bewei-
set, sind auch ihrer selbst bey solchen Handlungen nicht
mächtig. So wie die Vernunft in dem Kinde, und
in dem Jünglinge sich erhebt, so wächset auch seine Ge-
walt über sich, und seine Freyheit.

Ueberhaupt ist es ein allgemeiner Erfahrungssatz:
"Wenn und wo es unmöglich ist, die gegenwärtigen
"Vorstellungen, die unsere thätige Kraft leiten oder be-
"stimmen, selbstthätig zu bearbeiten, aus einander zu
"setzen, zu vergleichen und darüber zu reflektiren; dann
"und da besitzen wir auch keine Freyheit." Und alles
dasjenige, wodurch jenes Vermögen der Denkkraft bey
einzelnen Handlungen geschwächt oder aufgehoben wird,
benimmt uns in der gleichen Maße die Gegenwart
des Geistes,
bringet uns, wie wir sagen, aus unse-
rer Fassung, schwächet die Selbstmacht über uns, oder
hebet sie auf.

Jn der Wolfischen Seelenlehre wird die Freyheit
als eine nothwendige Folge der Vernunft angese-
hen. Ein vernünftiges Wesen kann sich deutliche Be-
griffe machen, und da es sich nach seinen Vorstellungen
zur Handlung bestimmet, so kann es sich auch nach
deutlichen Begriffen bestimmen. Dieß Vermö-
gen, sich nach deutlichen Begriffen zu bestim-
men,
ist die Freyheit nach der Wolfischen Erklärung.
Also ist Freyheit eine wesentliche Folge und Wirkung
vom Verstande und Vernunft.

Eine solche Abstammung der Freyheit von der Ver-
nunft kann man nun freilich aus ihren Begriffen nicht
beweisen, wenn die obige Jdee von der Freyheit zum
Grunde gelegt wird, die wir zunächst aus den Erfah-
rungen erlangen. Ob der Wolfische Begriff einerley

mit
II Theil. C

und Freyheit.
Bloͤdſinnige, Schlafende, Nachtwanderer, Betrun-
kene und alle ſolche, bey denen die Vernunft alsdenn,
wenn ſie etwas unternehmen, ſich nicht wirkſam bewei-
ſet, ſind auch ihrer ſelbſt bey ſolchen Handlungen nicht
maͤchtig. So wie die Vernunft in dem Kinde, und
in dem Juͤnglinge ſich erhebt, ſo waͤchſet auch ſeine Ge-
walt uͤber ſich, und ſeine Freyheit.

Ueberhaupt iſt es ein allgemeiner Erfahrungsſatz:
„Wenn und wo es unmoͤglich iſt, die gegenwaͤrtigen
„Vorſtellungen, die unſere thaͤtige Kraft leiten oder be-
„ſtimmen, ſelbſtthaͤtig zu bearbeiten, aus einander zu
„ſetzen, zu vergleichen und daruͤber zu reflektiren; dann
„und da beſitzen wir auch keine Freyheit.“ Und alles
dasjenige, wodurch jenes Vermoͤgen der Denkkraft bey
einzelnen Handlungen geſchwaͤcht oder aufgehoben wird,
benimmt uns in der gleichen Maße die Gegenwart
des Geiſtes,
bringet uns, wie wir ſagen, aus unſe-
rer Faſſung, ſchwaͤchet die Selbſtmacht uͤber uns, oder
hebet ſie auf.

Jn der Wolfiſchen Seelenlehre wird die Freyheit
als eine nothwendige Folge der Vernunft angeſe-
hen. Ein vernuͤnftiges Weſen kann ſich deutliche Be-
griffe machen, und da es ſich nach ſeinen Vorſtellungen
zur Handlung beſtimmet, ſo kann es ſich auch nach
deutlichen Begriffen beſtimmen. Dieß Vermoͤ-
gen, ſich nach deutlichen Begriffen zu beſtim-
men,
iſt die Freyheit nach der Wolfiſchen Erklaͤrung.
Alſo iſt Freyheit eine weſentliche Folge und Wirkung
vom Verſtande und Vernunft.

Eine ſolche Abſtammung der Freyheit von der Ver-
nunft kann man nun freilich aus ihren Begriffen nicht
beweiſen, wenn die obige Jdee von der Freyheit zum
Grunde gelegt wird, die wir zunaͤchſt aus den Erfah-
rungen erlangen. Ob der Wolfiſche Begriff einerley

mit
II Theil. C
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[33/0063] und Freyheit. Bloͤdſinnige, Schlafende, Nachtwanderer, Betrun- kene und alle ſolche, bey denen die Vernunft alsdenn, wenn ſie etwas unternehmen, ſich nicht wirkſam bewei- ſet, ſind auch ihrer ſelbſt bey ſolchen Handlungen nicht maͤchtig. So wie die Vernunft in dem Kinde, und in dem Juͤnglinge ſich erhebt, ſo waͤchſet auch ſeine Ge- walt uͤber ſich, und ſeine Freyheit. Ueberhaupt iſt es ein allgemeiner Erfahrungsſatz: „Wenn und wo es unmoͤglich iſt, die gegenwaͤrtigen „Vorſtellungen, die unſere thaͤtige Kraft leiten oder be- „ſtimmen, ſelbſtthaͤtig zu bearbeiten, aus einander zu „ſetzen, zu vergleichen und daruͤber zu reflektiren; dann „und da beſitzen wir auch keine Freyheit.“ Und alles dasjenige, wodurch jenes Vermoͤgen der Denkkraft bey einzelnen Handlungen geſchwaͤcht oder aufgehoben wird, benimmt uns in der gleichen Maße die Gegenwart des Geiſtes, bringet uns, wie wir ſagen, aus unſe- rer Faſſung, ſchwaͤchet die Selbſtmacht uͤber uns, oder hebet ſie auf. Jn der Wolfiſchen Seelenlehre wird die Freyheit als eine nothwendige Folge der Vernunft angeſe- hen. Ein vernuͤnftiges Weſen kann ſich deutliche Be- griffe machen, und da es ſich nach ſeinen Vorſtellungen zur Handlung beſtimmet, ſo kann es ſich auch nach deutlichen Begriffen beſtimmen. Dieß Vermoͤ- gen, ſich nach deutlichen Begriffen zu beſtim- men, iſt die Freyheit nach der Wolfiſchen Erklaͤrung. Alſo iſt Freyheit eine weſentliche Folge und Wirkung vom Verſtande und Vernunft. Eine ſolche Abſtammung der Freyheit von der Ver- nunft kann man nun freilich aus ihren Begriffen nicht beweiſen, wenn die obige Jdee von der Freyheit zum Grunde gelegt wird, die wir zunaͤchſt aus den Erfah- rungen erlangen. Ob der Wolfiſche Begriff einerley mit II Theil. C

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/63>, abgerufen am 21.11.2024.