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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.

Die Ursache hievon darf nicht weit gefucht werden.
Die Erhöhung der Fähigkeiten an ihrer absoluten Größe
hänget mehr von den dunkeln, innern und äußern, Ge-
fühlen ab, und von den unaufgelösten Vorstellungen,
die den Gefühlen nahe kommen, als von entwickelten
Jdeen der Gegenstände, die der Unterricht beybringet.
Jedes Menschenkind, das innerlich und äußerlich voll-
ständig organisirt ist, empfängt auch alle Arten von
Eindrücken und Empfindungen. Und wenn die Gesell-
schaft, in der es lebet, die nämliche ist, so hat es auch
die nämlichen Muster vor Augen. Diese Empfindun-
gen reizen seine innere Kraft zur Thätigkeit, und hin-
terlassen Spuren von den Aktionen, welche sich eindrü-
cken und so über die ganze Kraft ausbreiten, daß sie
neue Dispositionen und Vermögen machen. Dagegen
die entwickelten Kenntnisse, welche der Unterricht ge-
währet, mehr nur in der Anhäufung von besondern Vor-
stellungen bestehen, die die Aufmerksamkeit und das
Bestreben der Seele auf sich ziehen, wie die Kanäle
den Strom. Die geflissentliche Uebung ist überdieß in
den meisten Fällen nur allein und einzig auf besondere
Geschicklichkeiten eingerichtet. Die Uebung im Tanzen
und im Reiten gehet am meisten dahin, daß der Kör-
per zu besondern Stellungen und Bewegungen geschickt
werde. Damit ist nun zwar zugleich eine Stärkung in
allen körperlichen Kräften überhaupt verbunden, aber
diese letzterwehnte Wirkung von ihr ist so allgemein, daß
sie auch durch jede andere Uebung der Körperkraft, durchs
Gehen, Laufen, Springen, Tragen, erhalten werden
kann, die von Zeit und Umständen veranlaßt werden
und die man unternimmt, ohne Absicht eine besondere
Fertigkeit zu erwerben. Es soll dadurch nichts weniger
als der Werth der künstlichen Erziehung, und ihre
Macht auch auf die Entwickelung der absoluten Kräfte,
vermindert werden. Jndem sie den Geist auf gewisse

Gegen-
und Entwickelung des Menſchen.

Die Urſache hievon darf nicht weit gefucht werden.
Die Erhoͤhung der Faͤhigkeiten an ihrer abſoluten Groͤße
haͤnget mehr von den dunkeln, innern und aͤußern, Ge-
fuͤhlen ab, und von den unaufgeloͤſten Vorſtellungen,
die den Gefuͤhlen nahe kommen, als von entwickelten
Jdeen der Gegenſtaͤnde, die der Unterricht beybringet.
Jedes Menſchenkind, das innerlich und aͤußerlich voll-
ſtaͤndig organiſirt iſt, empfaͤngt auch alle Arten von
Eindruͤcken und Empfindungen. Und wenn die Geſell-
ſchaft, in der es lebet, die naͤmliche iſt, ſo hat es auch
die naͤmlichen Muſter vor Augen. Dieſe Empfindun-
gen reizen ſeine innere Kraft zur Thaͤtigkeit, und hin-
terlaſſen Spuren von den Aktionen, welche ſich eindruͤ-
cken und ſo uͤber die ganze Kraft ausbreiten, daß ſie
neue Diſpoſitionen und Vermoͤgen machen. Dagegen
die entwickelten Kenntniſſe, welche der Unterricht ge-
waͤhret, mehr nur in der Anhaͤufung von beſondern Vor-
ſtellungen beſtehen, die die Aufmerkſamkeit und das
Beſtreben der Seele auf ſich ziehen, wie die Kanaͤle
den Strom. Die gefliſſentliche Uebung iſt uͤberdieß in
den meiſten Faͤllen nur allein und einzig auf beſondere
Geſchicklichkeiten eingerichtet. Die Uebung im Tanzen
und im Reiten gehet am meiſten dahin, daß der Koͤr-
per zu beſondern Stellungen und Bewegungen geſchickt
werde. Damit iſt nun zwar zugleich eine Staͤrkung in
allen koͤrperlichen Kraͤften uͤberhaupt verbunden, aber
dieſe letzterwehnte Wirkung von ihr iſt ſo allgemein, daß
ſie auch durch jede andere Uebung der Koͤrperkraft, durchs
Gehen, Laufen, Springen, Tragen, erhalten werden
kann, die von Zeit und Umſtaͤnden veranlaßt werden
und die man unternimmt, ohne Abſicht eine beſondere
Fertigkeit zu erwerben. Es ſoll dadurch nichts weniger
als der Werth der kuͤnſtlichen Erziehung, und ihre
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Gegen-
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[603/0633] und Entwickelung des Menſchen. Die Urſache hievon darf nicht weit gefucht werden. Die Erhoͤhung der Faͤhigkeiten an ihrer abſoluten Groͤße haͤnget mehr von den dunkeln, innern und aͤußern, Ge- fuͤhlen ab, und von den unaufgeloͤſten Vorſtellungen, die den Gefuͤhlen nahe kommen, als von entwickelten Jdeen der Gegenſtaͤnde, die der Unterricht beybringet. Jedes Menſchenkind, das innerlich und aͤußerlich voll- ſtaͤndig organiſirt iſt, empfaͤngt auch alle Arten von Eindruͤcken und Empfindungen. Und wenn die Geſell- ſchaft, in der es lebet, die naͤmliche iſt, ſo hat es auch die naͤmlichen Muſter vor Augen. Dieſe Empfindun- gen reizen ſeine innere Kraft zur Thaͤtigkeit, und hin- terlaſſen Spuren von den Aktionen, welche ſich eindruͤ- cken und ſo uͤber die ganze Kraft ausbreiten, daß ſie neue Diſpoſitionen und Vermoͤgen machen. Dagegen die entwickelten Kenntniſſe, welche der Unterricht ge- waͤhret, mehr nur in der Anhaͤufung von beſondern Vor- ſtellungen beſtehen, die die Aufmerkſamkeit und das Beſtreben der Seele auf ſich ziehen, wie die Kanaͤle den Strom. Die gefliſſentliche Uebung iſt uͤberdieß in den meiſten Faͤllen nur allein und einzig auf beſondere Geſchicklichkeiten eingerichtet. Die Uebung im Tanzen und im Reiten gehet am meiſten dahin, daß der Koͤr- per zu beſondern Stellungen und Bewegungen geſchickt werde. Damit iſt nun zwar zugleich eine Staͤrkung in allen koͤrperlichen Kraͤften uͤberhaupt verbunden, aber dieſe letzterwehnte Wirkung von ihr iſt ſo allgemein, daß ſie auch durch jede andere Uebung der Koͤrperkraft, durchs Gehen, Laufen, Springen, Tragen, erhalten werden kann, die von Zeit und Umſtaͤnden veranlaßt werden und die man unternimmt, ohne Abſicht eine beſondere Fertigkeit zu erwerben. Es ſoll dadurch nichts weniger als der Werth der kuͤnſtlichen Erziehung, und ihre Macht auch auf die Entwickelung der abſoluten Kraͤfte, vermindert werden. Jndem ſie den Geiſt auf gewiſſe Gegen-

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 603. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/633>, abgerufen am 22.11.2024.