Gegenstände leitet, durch diese ihn besonders reizet und übet, so giebt sie ja auch Veranlassungen, sein Vermö- gen hervorzuziehen und vorzüglich zu entwickeln. Al- lein so wie sie jetzo gemeiniglich noch ist, lehret die Er- fahrung, daß sie keine Genies aus schwachen Köpfen machen kann, noch thätige Seelen aus trägen Gemü- thern. Jede Person vom Verstande, von Lebhaftigkeit und Geistesstärke, hat allemal mehr sich selbst durch die ihr vorgekommenen Veranlassungen ausgebildet, als von der regelmäßigen Erziehung ihren Vorzug erhalten. Aber man scheinet auch in unsern Schulen zur Zeit darauf abzuzielen, daß die Natur in die Form komme, die man ihr geben will, nicht aber so sehr, daß sie selbst an ihren Kräften erhöhet werde.
Hierinn kann nun ohne Zweifel vieles gebessert wer- den, wozu auch der Anfang schon gemacht wird. Wenn die physische Erziehung zu der intellektuellen hinzukommt, so wird sie mächtiger werden; allein dennoch nicht so allmächtig, als Hr. Verdier zu glauben scheinet. Die Kunst hat ihre engen Grenzen bey einem Wesen, bey dem die Natur so wichtig ist, als der Mensch ist. Die vollkommenste Erziehung wird nie aus ihm einen Engel machen, so wie er bey der schlechtesten nie zum Thier heruntersinket. Und es ist auch hier wohl möglich, daß die Kunst sich zu viel eindringe und schädlich werde. Auf einer Seite ist es freylich außer Zweifel, wie schon gesagt ist, daß wenn die Erziehung sich aller äußern Ursachen, die auf den Körper und auf die Sinne wirken von der Geburt an bemächtigen könnte, so würde sie die Na- tur unter ihre Gewalt bringen, und den Charakter der Natur, was aber auch ihr äußerstes ist, unkenntlich machen. Allein auf der andern Seite bestehet auch ih- re größte Stärke fast allein nur darinn, daß sie relative Geschicklichkeiten bildet. Die absoluten Vermögen müs- sen sich größtentheils von selbst entwickeln; und da kann
die
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Gegenſtaͤnde leitet, durch dieſe ihn beſonders reizet und uͤbet, ſo giebt ſie ja auch Veranlaſſungen, ſein Vermoͤ- gen hervorzuziehen und vorzuͤglich zu entwickeln. Al- lein ſo wie ſie jetzo gemeiniglich noch iſt, lehret die Er- fahrung, daß ſie keine Genies aus ſchwachen Koͤpfen machen kann, noch thaͤtige Seelen aus traͤgen Gemuͤ- thern. Jede Perſon vom Verſtande, von Lebhaftigkeit und Geiſtesſtaͤrke, hat allemal mehr ſich ſelbſt durch die ihr vorgekommenen Veranlaſſungen ausgebildet, als von der regelmaͤßigen Erziehung ihren Vorzug erhalten. Aber man ſcheinet auch in unſern Schulen zur Zeit darauf abzuzielen, daß die Natur in die Form komme, die man ihr geben will, nicht aber ſo ſehr, daß ſie ſelbſt an ihren Kraͤften erhoͤhet werde.
Hierinn kann nun ohne Zweifel vieles gebeſſert wer- den, wozu auch der Anfang ſchon gemacht wird. Wenn die phyſiſche Erziehung zu der intellektuellen hinzukommt, ſo wird ſie maͤchtiger werden; allein dennoch nicht ſo allmaͤchtig, als Hr. Verdier zu glauben ſcheinet. Die Kunſt hat ihre engen Grenzen bey einem Weſen, bey dem die Natur ſo wichtig iſt, als der Menſch iſt. Die vollkommenſte Erziehung wird nie aus ihm einen Engel machen, ſo wie er bey der ſchlechteſten nie zum Thier herunterſinket. Und es iſt auch hier wohl moͤglich, daß die Kunſt ſich zu viel eindringe und ſchaͤdlich werde. Auf einer Seite iſt es freylich außer Zweifel, wie ſchon geſagt iſt, daß wenn die Erziehung ſich aller aͤußern Urſachen, die auf den Koͤrper und auf die Sinne wirken von der Geburt an bemaͤchtigen koͤnnte, ſo wuͤrde ſie die Na- tur unter ihre Gewalt bringen, und den Charakter der Natur, was aber auch ihr aͤußerſtes iſt, unkenntlich machen. Allein auf der andern Seite beſtehet auch ih- re groͤßte Staͤrke faſt allein nur darinn, daß ſie relative Geſchicklichkeiten bildet. Die abſoluten Vermoͤgen muͤſ- ſen ſich groͤßtentheils von ſelbſt entwickeln; und da kann
die
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0634"n="604"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">XIV.</hi> Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt</hi></fw><lb/>
Gegenſtaͤnde leitet, durch dieſe ihn beſonders reizet und<lb/>
uͤbet, ſo giebt ſie ja auch Veranlaſſungen, ſein Vermoͤ-<lb/>
gen hervorzuziehen und vorzuͤglich zu entwickeln. Al-<lb/>
lein ſo wie ſie jetzo gemeiniglich noch iſt, lehret die Er-<lb/>
fahrung, daß ſie keine Genies aus ſchwachen Koͤpfen<lb/>
machen kann, noch thaͤtige Seelen aus traͤgen Gemuͤ-<lb/>
thern. Jede Perſon vom Verſtande, von Lebhaftigkeit<lb/>
und Geiſtesſtaͤrke, hat allemal mehr ſich ſelbſt durch die<lb/>
ihr vorgekommenen Veranlaſſungen ausgebildet, als<lb/>
von der regelmaͤßigen Erziehung ihren Vorzug erhalten.<lb/>
Aber man ſcheinet auch in unſern Schulen zur Zeit darauf<lb/>
abzuzielen, daß die Natur in die Form komme, die man<lb/>
ihr geben will, nicht aber ſo ſehr, daß ſie ſelbſt an ihren<lb/>
Kraͤften erhoͤhet werde.</p><lb/><p>Hierinn kann nun ohne Zweifel vieles gebeſſert wer-<lb/>
den, wozu auch der Anfang ſchon gemacht wird. Wenn<lb/>
die phyſiſche Erziehung zu der intellektuellen hinzukommt,<lb/>ſo wird ſie maͤchtiger werden; allein dennoch nicht ſo<lb/>
allmaͤchtig, als Hr. <hirendition="#fr">Verdier</hi> zu glauben ſcheinet. Die<lb/>
Kunſt hat ihre engen Grenzen bey einem Weſen, bey<lb/>
dem die Natur ſo wichtig iſt, als der Menſch iſt. Die<lb/>
vollkommenſte Erziehung wird nie aus ihm einen Engel<lb/>
machen, ſo wie er bey der ſchlechteſten nie zum Thier<lb/>
herunterſinket. Und es iſt auch hier wohl moͤglich, daß<lb/>
die Kunſt ſich zu viel eindringe und ſchaͤdlich werde. Auf<lb/>
einer Seite iſt es freylich außer Zweifel, wie ſchon geſagt<lb/>
iſt, daß wenn die Erziehung ſich aller aͤußern Urſachen,<lb/>
die auf den Koͤrper und auf die Sinne wirken von der<lb/>
Geburt an bemaͤchtigen koͤnnte, ſo wuͤrde ſie die Na-<lb/>
tur unter ihre Gewalt bringen, und den Charakter der<lb/>
Natur, was aber auch ihr aͤußerſtes iſt, unkenntlich<lb/>
machen. Allein auf der andern Seite beſtehet auch ih-<lb/>
re groͤßte Staͤrke faſt allein nur darinn, daß ſie relative<lb/>
Geſchicklichkeiten bildet. Die abſoluten Vermoͤgen muͤſ-<lb/>ſen ſich groͤßtentheils von ſelbſt entwickeln; und da kann<lb/><fwplace="bottom"type="catch">die</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[604/0634]
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Gegenſtaͤnde leitet, durch dieſe ihn beſonders reizet und
uͤbet, ſo giebt ſie ja auch Veranlaſſungen, ſein Vermoͤ-
gen hervorzuziehen und vorzuͤglich zu entwickeln. Al-
lein ſo wie ſie jetzo gemeiniglich noch iſt, lehret die Er-
fahrung, daß ſie keine Genies aus ſchwachen Koͤpfen
machen kann, noch thaͤtige Seelen aus traͤgen Gemuͤ-
thern. Jede Perſon vom Verſtande, von Lebhaftigkeit
und Geiſtesſtaͤrke, hat allemal mehr ſich ſelbſt durch die
ihr vorgekommenen Veranlaſſungen ausgebildet, als
von der regelmaͤßigen Erziehung ihren Vorzug erhalten.
Aber man ſcheinet auch in unſern Schulen zur Zeit darauf
abzuzielen, daß die Natur in die Form komme, die man
ihr geben will, nicht aber ſo ſehr, daß ſie ſelbſt an ihren
Kraͤften erhoͤhet werde.
Hierinn kann nun ohne Zweifel vieles gebeſſert wer-
den, wozu auch der Anfang ſchon gemacht wird. Wenn
die phyſiſche Erziehung zu der intellektuellen hinzukommt,
ſo wird ſie maͤchtiger werden; allein dennoch nicht ſo
allmaͤchtig, als Hr. Verdier zu glauben ſcheinet. Die
Kunſt hat ihre engen Grenzen bey einem Weſen, bey
dem die Natur ſo wichtig iſt, als der Menſch iſt. Die
vollkommenſte Erziehung wird nie aus ihm einen Engel
machen, ſo wie er bey der ſchlechteſten nie zum Thier
herunterſinket. Und es iſt auch hier wohl moͤglich, daß
die Kunſt ſich zu viel eindringe und ſchaͤdlich werde. Auf
einer Seite iſt es freylich außer Zweifel, wie ſchon geſagt
iſt, daß wenn die Erziehung ſich aller aͤußern Urſachen,
die auf den Koͤrper und auf die Sinne wirken von der
Geburt an bemaͤchtigen koͤnnte, ſo wuͤrde ſie die Na-
tur unter ihre Gewalt bringen, und den Charakter der
Natur, was aber auch ihr aͤußerſtes iſt, unkenntlich
machen. Allein auf der andern Seite beſtehet auch ih-
re groͤßte Staͤrke faſt allein nur darinn, daß ſie relative
Geſchicklichkeiten bildet. Die abſoluten Vermoͤgen muͤſ-
ſen ſich groͤßtentheils von ſelbſt entwickeln; und da kann
die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 604. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/634>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.