Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.und Entwickelung des Menschen. die Kunst, wenn sie nach einer Seite hin die Naturübertreibet, schädlich werden. Man sehe ihre Wirkung nur etwas näher an. Das Gesicht kann allerdings durch eine schickliche Uebung etwas besser gewöhnet wer- den, in der Ferne und in der Nähe zu sehen, auch die Sachen leichter und besser zu fassen. Das Gehör kann etwas zärter gemacht werden, und so die übrigen Sinne; auch die Einbildungskraft, der Verstand und die Thätig- keitskraft. So viel ist gewiß. Aber wie viel sollte nun wohl die Kunst hinzusetzen, wenn z. B. das Gefühl, wie Hr. Verdier vorschlägt, mittelst gewisser Jnstru- mente noch näher auf das Unterscheiden der Farben, das Gehör mittelst eines Monochords auf die Verschieden- heit der Töne, geführet wird? Sollte sie die Seelenver- mögen weit über die Grenzen bringen, zu der diese von selbst, ohne besondere Lenkung, instinktartig gelan- gen, wenn ihnen nur dieselbigen Gelegenheiten gelas- sen werden? Nun kommt dazu, daß jedwede Richtung, die man der thätigen Kraft an einer Seite giebt, sie von andern Seiten und Aeußerungen abziehet; daß man, um die Kräfte auf die beste Art zu stärken, sie nicht übertreiben dürfe, und sie also doch nicht viel mehr durch Zwang bey einer Beschäftigung fesseln müsse, als sie für sich selbst aus innerer Neigung sich damit unterhalten mag. Deßwegen kann auch die Kunst nicht so sehr viel mehr, als daß sie den Kräften die angemessenen Objekte verschaffet und ihnen solche vorhält. Wenn Ruhe nö- thig sey und Abwechselung, und in welchem Grade die Kraft angespornet und in welcher Beziehung ein Ver- mögen gegen das andere geübt werden müsse, um die beste Entwickelung in der gesammten Natur zu veran- stalten: das kann in jedem Jndividuum, zumal bey den Kindern, mehr das innere Selbstgefühl, als es von ir- gend einem Erzieher, bey der größten Aufmerksamkeit auf die Untergebenen, sollte genau aus den äußern An- zeigen
und Entwickelung des Menſchen. die Kunſt, wenn ſie nach einer Seite hin die Naturuͤbertreibet, ſchaͤdlich werden. Man ſehe ihre Wirkung nur etwas naͤher an. Das Geſicht kann allerdings durch eine ſchickliche Uebung etwas beſſer gewoͤhnet wer- den, in der Ferne und in der Naͤhe zu ſehen, auch die Sachen leichter und beſſer zu faſſen. Das Gehoͤr kann etwas zaͤrter gemacht werden, und ſo die uͤbrigen Sinne; auch die Einbildungskraft, der Verſtand und die Thaͤtig- keitskraft. So viel iſt gewiß. Aber wie viel ſollte nun wohl die Kunſt hinzuſetzen, wenn z. B. das Gefuͤhl, wie Hr. Verdier vorſchlaͤgt, mittelſt gewiſſer Jnſtru- mente noch naͤher auf das Unterſcheiden der Farben, das Gehoͤr mittelſt eines Monochords auf die Verſchieden- heit der Toͤne, gefuͤhret wird? Sollte ſie die Seelenver- moͤgen weit uͤber die Grenzen bringen, zu der dieſe von ſelbſt, ohne beſondere Lenkung, inſtinktartig gelan- gen, wenn ihnen nur dieſelbigen Gelegenheiten gelaſ- ſen werden? Nun kommt dazu, daß jedwede Richtung, die man der thaͤtigen Kraft an einer Seite giebt, ſie von andern Seiten und Aeußerungen abziehet; daß man, um die Kraͤfte auf die beſte Art zu ſtaͤrken, ſie nicht uͤbertreiben duͤrfe, und ſie alſo doch nicht viel mehr durch Zwang bey einer Beſchaͤftigung feſſeln muͤſſe, als ſie fuͤr ſich ſelbſt aus innerer Neigung ſich damit unterhalten mag. Deßwegen kann auch die Kunſt nicht ſo ſehr viel mehr, als daß ſie den Kraͤften die angemeſſenen Objekte verſchaffet und ihnen ſolche vorhaͤlt. Wenn Ruhe noͤ- thig ſey und Abwechſelung, und in welchem Grade die Kraft angeſpornet und in welcher Beziehung ein Ver- moͤgen gegen das andere geuͤbt werden muͤſſe, um die beſte Entwickelung in der geſammten Natur zu veran- ſtalten: das kann in jedem Jndividuum, zumal bey den Kindern, mehr das innere Selbſtgefuͤhl, als es von ir- gend einem Erzieher, bey der groͤßten Aufmerkſamkeit auf die Untergebenen, ſollte genau aus den aͤußern An- zeigen
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die Kunſt, wenn ſie nach einer Seite hin die Natur
uͤbertreibet, ſchaͤdlich werden. Man ſehe ihre Wirkung
nur etwas naͤher an. Das Geſicht kann allerdings
durch eine ſchickliche Uebung etwas beſſer gewoͤhnet wer-
den, in der Ferne und in der Naͤhe zu ſehen, auch die
Sachen leichter und beſſer zu faſſen. Das Gehoͤr kann
etwas zaͤrter gemacht werden, und ſo die uͤbrigen Sinne;
auch die Einbildungskraft, der Verſtand und die Thaͤtig-
keitskraft. So viel iſt gewiß. Aber wie viel ſollte nun
wohl die Kunſt hinzuſetzen, wenn z. B. das Gefuͤhl,
wie Hr. Verdier vorſchlaͤgt, mittelſt gewiſſer Jnſtru-
mente noch naͤher auf das Unterſcheiden der Farben, das
Gehoͤr mittelſt eines Monochords auf die Verſchieden-
heit der Toͤne, gefuͤhret wird? Sollte ſie die Seelenver-
moͤgen weit uͤber die Grenzen bringen, zu der dieſe von
ſelbſt, ohne beſondere Lenkung, inſtinktartig gelan-
gen, wenn ihnen nur dieſelbigen Gelegenheiten gelaſ-
ſen werden? Nun kommt dazu, daß jedwede Richtung,
die man der thaͤtigen Kraft an einer Seite giebt, ſie
von andern Seiten und Aeußerungen abziehet; daß man,
um die Kraͤfte auf die beſte Art zu ſtaͤrken, ſie nicht
uͤbertreiben duͤrfe, und ſie alſo doch nicht viel mehr durch
Zwang bey einer Beſchaͤftigung feſſeln muͤſſe, als ſie fuͤr
ſich ſelbſt aus innerer Neigung ſich damit unterhalten
mag. Deßwegen kann auch die Kunſt nicht ſo ſehr viel
mehr, als daß ſie den Kraͤften die angemeſſenen Objekte
verſchaffet und ihnen ſolche vorhaͤlt. Wenn Ruhe noͤ-
thig ſey und Abwechſelung, und in welchem Grade die
Kraft angeſpornet und in welcher Beziehung ein Ver-
moͤgen gegen das andere geuͤbt werden muͤſſe, um die
beſte Entwickelung in der geſammten Natur zu veran-
ſtalten: das kann in jedem Jndividuum, zumal bey den
Kindern, mehr das innere Selbſtgefuͤhl, als es von ir-
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