Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität Die Natur ist reich genug, selbst in Californien und inNeuholland, um die zur Auswickelung aller Seelen- vermögen nöthigen Nahrungssäfte herzugeben, wenn gleich nicht so überflüßig damit versehen, als in den polizirten Städten. Die Hauptstärke der künstlichen Er- ziehung wird immer darinn bestehen, daß die Naturkräf- te auf besondere Arten und in gewisser Ordnung gerei- zet werden, und daß zu dem Ende der Eindruck, den die äußern Objekte von selbst machen, durch die Kunst verstärket werde, wie es nöthig ist, um die Trägheit zu überwinden. Hierauf beruhet das meiste von dem, was sie in der Erhöhung der absoluten Kräfte ausrichtet. Daher ist auch dieß die Hauptsache. Denn sind einmal die Anlagen aufgewecket, und die Kräfte thätig: so wird, was ihre Leitung auf besondere Objekte zu besondern Geschicklichkeiten betrift, so wird das allermeiste darinn bestehen, daß man solche der Natur in der gehörigen Stellung vorhalte, und dann es ihr überlasse, sich mit denen und so weit zu befassen, wie sie für sich es am an- gemessensten findet. Jch sage das allermeiste. Denn es versteht sich, theils daß, da Lust zur Thätigkeit zu erwecken ist, man auch da, wo man keinen vorzüglichen Hang zu einer Art von Gegenständen mehr als zu an- dern gewahrnimmt, die Kräfte doch zu einigen reizen müsse, wie man im Anfang bey allen Kindern thun muß; theils auch daß nicht ganz alles dem Eigenwillen, oder Selbsttriebe, zu überlassen sey. Nur ist zu bemer- ken, daß hiebey die Künsteley zu stark werden, und so gut das Genie unterdrücken, als ihm aufhelfen kann. Das mehreste aber, was man durch die Lenkung der Vermö- gen allein ausrichtet, bestehet in den erhöheten Kunstge- schicklichkeiten, nicht so wohl in der Erhöhung der Kräfte. Man kann dieß durch die Erfahrung bestätiget fin- zogenen
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt Die Natur iſt reich genug, ſelbſt in Californien und inNeuholland, um die zur Auswickelung aller Seelen- vermoͤgen noͤthigen Nahrungsſaͤfte herzugeben, wenn gleich nicht ſo uͤberfluͤßig damit verſehen, als in den polizirten Staͤdten. Die Hauptſtaͤrke der kuͤnſtlichen Er- ziehung wird immer darinn beſtehen, daß die Naturkraͤf- te auf beſondere Arten und in gewiſſer Ordnung gerei- zet werden, und daß zu dem Ende der Eindruck, den die aͤußern Objekte von ſelbſt machen, durch die Kunſt verſtaͤrket werde, wie es noͤthig iſt, um die Traͤgheit zu uͤberwinden. Hierauf beruhet das meiſte von dem, was ſie in der Erhoͤhung der abſoluten Kraͤfte ausrichtet. Daher iſt auch dieß die Hauptſache. Denn ſind einmal die Anlagen aufgewecket, und die Kraͤfte thaͤtig: ſo wird, was ihre Leitung auf beſondere Objekte zu beſondern Geſchicklichkeiten betrift, ſo wird das allermeiſte darinn beſtehen, daß man ſolche der Natur in der gehoͤrigen Stellung vorhalte, und dann es ihr uͤberlaſſe, ſich mit denen und ſo weit zu befaſſen, wie ſie fuͤr ſich es am an- gemeſſenſten findet. Jch ſage das allermeiſte. Denn es verſteht ſich, theils daß, da Luſt zur Thaͤtigkeit zu erwecken iſt, man auch da, wo man keinen vorzuͤglichen Hang zu einer Art von Gegenſtaͤnden mehr als zu an- dern gewahrnimmt, die Kraͤfte doch zu einigen reizen muͤſſe, wie man im Anfang bey allen Kindern thun muß; theils auch daß nicht ganz alles dem Eigenwillen, oder Selbſttriebe, zu uͤberlaſſen ſey. Nur iſt zu bemer- ken, daß hiebey die Kuͤnſteley zu ſtark werden, und ſo gut das Genie unterdruͤcken, als ihm aufhelfen kann. Das mehreſte aber, was man durch die Lenkung der Vermoͤ- gen allein ausrichtet, beſtehet in den erhoͤheten Kunſtge- ſchicklichkeiten, nicht ſo wohl in der Erhoͤhung der Kraͤfte. Man kann dieß durch die Erfahrung beſtaͤtiget fin- zogenen
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Die Natur iſt reich genug, ſelbſt in Californien und in
Neuholland, um die zur Auswickelung aller Seelen-
vermoͤgen noͤthigen Nahrungsſaͤfte herzugeben, wenn
gleich nicht ſo uͤberfluͤßig damit verſehen, als in den
polizirten Staͤdten. Die Hauptſtaͤrke der kuͤnſtlichen Er-
ziehung wird immer darinn beſtehen, daß die Naturkraͤf-
te auf beſondere Arten und in gewiſſer Ordnung gerei-
zet werden, und daß zu dem Ende der Eindruck, den
die aͤußern Objekte von ſelbſt machen, durch die Kunſt
verſtaͤrket werde, wie es noͤthig iſt, um die Traͤgheit
zu uͤberwinden. Hierauf beruhet das meiſte von dem,
was ſie in der Erhoͤhung der abſoluten Kraͤfte ausrichtet.
Daher iſt auch dieß die Hauptſache. Denn ſind einmal
die Anlagen aufgewecket, und die Kraͤfte thaͤtig: ſo wird,
was ihre Leitung auf beſondere Objekte zu beſondern
Geſchicklichkeiten betrift, ſo wird das allermeiſte darinn
beſtehen, daß man ſolche der Natur in der gehoͤrigen
Stellung vorhalte, und dann es ihr uͤberlaſſe, ſich mit
denen und ſo weit zu befaſſen, wie ſie fuͤr ſich es am an-
gemeſſenſten findet. Jch ſage das allermeiſte. Denn
es verſteht ſich, theils daß, da Luſt zur Thaͤtigkeit zu
erwecken iſt, man auch da, wo man keinen vorzuͤglichen
Hang zu einer Art von Gegenſtaͤnden mehr als zu an-
dern gewahrnimmt, die Kraͤfte doch zu einigen reizen
muͤſſe, wie man im Anfang bey allen Kindern thun
muß; theils auch daß nicht ganz alles dem Eigenwillen,
oder Selbſttriebe, zu uͤberlaſſen ſey. Nur iſt zu bemer-
ken, daß hiebey die Kuͤnſteley zu ſtark werden, und ſo
gut das Genie unterdruͤcken, als ihm aufhelfen kann. Das
mehreſte aber, was man durch die Lenkung der Vermoͤ-
gen allein ausrichtet, beſtehet in den erhoͤheten Kunſtge-
ſchicklichkeiten, nicht ſo wohl in der Erhoͤhung der Kraͤfte.
Man kann dieß durch die Erfahrung beſtaͤtiget fin-
den, wenn man die gut und ſchlecht angefuͤhrten Bauer-
kinder auf dem Lande mit den unerzogenen und wohler-
zogenen
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