Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.und Entwicklung des Menschen. auf verschiedene Gegenstände leiten: so ist zwar so vielgewiß, daß sie auf einer Seite dadurch reizbarer gewor- den ist; aber auf der andern auch biegsamer, so daß die Vernunft sie leichter zerstreuen, andere Begierden ihr entgegenstellen und eher ihren Ausbruch hindern kann. Wir haben ferner die bekannte Erfahrung, daß man ei- ner in Affekt gesetzten Person am leichtesten beykomme, wenn man mit ihr in denselben Affekt bis auf eine ge- wisse Weite hinein gehet, dem Schein nach wenigstens, und ihr dadurch schmeichelt. So macht man sie auf uns aufmerksam, und locket die Ueberlegungskraft her- vor, die der geliebkoseten Neigung, wie einem wildge- wordenen Thier, endlich den Zügel über den Kopf wirft und sie bändiget. Sollte nicht eine solche Kunst bey den starken Trieben des Menschen möglich seyn? bey solchen, die man nicht unterdrücken noch schwächen darf noch kann, und deren gewaltsame Ausbrüche eine der stärksten Quellen von dem Unglück der Menschheit sind? Man wird von selbst begreifen, daß es ganz ein anders sey, durch grobe sinnliche Vorstellungen die Begierde ohne Noth zu reizen und ihre Wut zu vergrößern; und ein ganz anders, durch gewisse feinere und sanftere Wallungen im Herzen, die man veranlasset, sie dem Schein nach zu liebkosen und zu unterhalten, wenn sie von selbst sich reget, aber zugleich sie mit so vielen leb- haften, feinern Phantasien und vernünftigen Reflexio- nen zu durchweben und zu umgeben, daß sie darinn verwickelt und vertheilet wird. Jch berühre diese Ma- terie hier nur im Vorbeygehen. Aber gewiß ist es doch auch, daß, zum Beyspiel, die Romanen des Richard- sons die Liebe auf eine solche Art bearbeiten, die keinen Schaden bringen kann, wenn sie gleich auf der andern Seite auch nicht mit solcher psychologischen Stärke auf diesen Naturtrieb wirken, als man von einer noch et- was stärkern Art sie zu behandeln vielleicht erwarten könnte.
und Entwicklung des Menſchen. auf verſchiedene Gegenſtaͤnde leiten: ſo iſt zwar ſo vielgewiß, daß ſie auf einer Seite dadurch reizbarer gewor- den iſt; aber auf der andern auch biegſamer, ſo daß die Vernunft ſie leichter zerſtreuen, andere Begierden ihr entgegenſtellen und eher ihren Ausbruch hindern kann. Wir haben ferner die bekannte Erfahrung, daß man ei- ner in Affekt geſetzten Perſon am leichteſten beykomme, wenn man mit ihr in denſelben Affekt bis auf eine ge- wiſſe Weite hinein gehet, dem Schein nach wenigſtens, und ihr dadurch ſchmeichelt. So macht man ſie auf uns aufmerkſam, und locket die Ueberlegungskraft her- vor, die der geliebkoſeten Neigung, wie einem wildge- wordenen Thier, endlich den Zuͤgel uͤber den Kopf wirft und ſie baͤndiget. Sollte nicht eine ſolche Kunſt bey den ſtarken Trieben des Menſchen moͤglich ſeyn? bey ſolchen, die man nicht unterdruͤcken noch ſchwaͤchen darf noch kann, und deren gewaltſame Ausbruͤche eine der ſtaͤrkſten Quellen von dem Ungluͤck der Menſchheit ſind? Man wird von ſelbſt begreifen, daß es ganz ein anders ſey, durch grobe ſinnliche Vorſtellungen die Begierde ohne Noth zu reizen und ihre Wut zu vergroͤßern; und ein ganz anders, durch gewiſſe feinere und ſanftere Wallungen im Herzen, die man veranlaſſet, ſie dem Schein nach zu liebkoſen und zu unterhalten, wenn ſie von ſelbſt ſich reget, aber zugleich ſie mit ſo vielen leb- haften, feinern Phantaſien und vernuͤnftigen Reflexio- nen zu durchweben und zu umgeben, daß ſie darinn verwickelt und vertheilet wird. Jch beruͤhre dieſe Ma- terie hier nur im Vorbeygehen. Aber gewiß iſt es doch auch, daß, zum Beyſpiel, die Romanen des Richard- ſons die Liebe auf eine ſolche Art bearbeiten, die keinen Schaden bringen kann, wenn ſie gleich auf der andern Seite auch nicht mit ſolcher pſychologiſchen Staͤrke auf dieſen Naturtrieb wirken, als man von einer noch et- was ſtaͤrkern Art ſie zu behandeln vielleicht erwarten koͤnnte.
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und Entwicklung des Menſchen.
auf verſchiedene Gegenſtaͤnde leiten: ſo iſt zwar ſo viel
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den iſt; aber auf der andern auch biegſamer, ſo daß die
Vernunft ſie leichter zerſtreuen, andere Begierden ihr
entgegenſtellen und eher ihren Ausbruch hindern kann.
Wir haben ferner die bekannte Erfahrung, daß man ei-
ner in Affekt geſetzten Perſon am leichteſten beykomme,
wenn man mit ihr in denſelben Affekt bis auf eine ge-
wiſſe Weite hinein gehet, dem Schein nach wenigſtens,
und ihr dadurch ſchmeichelt. So macht man ſie auf
uns aufmerkſam, und locket die Ueberlegungskraft her-
vor, die der geliebkoſeten Neigung, wie einem wildge-
wordenen Thier, endlich den Zuͤgel uͤber den Kopf wirft
und ſie baͤndiget. Sollte nicht eine ſolche Kunſt bey
den ſtarken Trieben des Menſchen moͤglich ſeyn? bey
ſolchen, die man nicht unterdruͤcken noch ſchwaͤchen darf
noch kann, und deren gewaltſame Ausbruͤche eine der
ſtaͤrkſten Quellen von dem Ungluͤck der Menſchheit ſind?
Man wird von ſelbſt begreifen, daß es ganz ein anders
ſey, durch grobe ſinnliche Vorſtellungen die Begierde
ohne Noth zu reizen und ihre Wut zu vergroͤßern;
und ein ganz anders, durch gewiſſe feinere und ſanftere
Wallungen im Herzen, die man veranlaſſet, ſie dem
Schein nach zu liebkoſen und zu unterhalten, wenn ſie
von ſelbſt ſich reget, aber zugleich ſie mit ſo vielen leb-
haften, feinern Phantaſien und vernuͤnftigen Reflexio-
nen zu durchweben und zu umgeben, daß ſie darinn
verwickelt und vertheilet wird. Jch beruͤhre dieſe Ma-
terie hier nur im Vorbeygehen. Aber gewiß iſt es doch
auch, daß, zum Beyſpiel, die Romanen des Richard-
ſons die Liebe auf eine ſolche Art bearbeiten, die keinen
Schaden bringen kann, wenn ſie gleich auf der andern
Seite auch nicht mit ſolcher pſychologiſchen Staͤrke auf
dieſen Naturtrieb wirken, als man von einer noch et-
was ſtaͤrkern Art ſie zu behandeln vielleicht erwarten
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