Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
könnte. Jndessen ist es eben so gewiß, daß niemand,
der nicht mit großer und inniger Kenntniß des menschli-
chen Herzens die wärmeste Rechtschaffenheit verbindet,
die unverrückt der Tugend getreu bleibet, wenn sie gleich
zuweilen den Schein annimmt, als gehe sie zu ihren
Feinden über, sich für berufen halten dürfe auf diese
Art an dem Menschen zu arbeiten, wie Sterne und
Wieland es zuweilen gethan haben. Man ist denen,
die sich an ein so schweres Unternehmen wagen und,
ob schon wider ihre Absicht, mehr Schaden als Vortheil
stiften, wenig Nachsicht schuldig, noch weniger als
den mittelmäßigen Dichtern. Der Arzt der mit heroi-
schen Arzneyen nur unvorsichtig umgehet, verdient den
schärfsten Tadel. Doch muß man auch so billig seyn
und den Schaden oder den Nutzen, den sie stiften, nicht
nach der Einbildung solcher Leute schätzen, die nach ih-
ren einseitigen und engen Begriffen urtheilen.

IV.
Von| der einseitigen Vervollkommnung des Men-
schen.

1) Zu weit getriebene Vervollkommnung an ei-
ner Seite kann der Vollkommenheit der Na-
tur im Ganzen schädlich werden.

2) Wie das Maß der Vervollkommnung an
einer Seite zu bestimmen sey, wo diese in
Rücksicht auf die Vollkommenheit des Gan-
zen ein Größtes ist?

1.

Um den Werth der innern Menschheit in den verschie-
denen Formen, in denen sie vor uns lieget, nur ei-
nigermaßen mit Vernunft zu schätzen, muß auf alle ver-
schiedene Seiten, an denen der Mensch vervollkommnet

werden

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
koͤnnte. Jndeſſen iſt es eben ſo gewiß, daß niemand,
der nicht mit großer und inniger Kenntniß des menſchli-
chen Herzens die waͤrmeſte Rechtſchaffenheit verbindet,
die unverruͤckt der Tugend getreu bleibet, wenn ſie gleich
zuweilen den Schein annimmt, als gehe ſie zu ihren
Feinden uͤber, ſich fuͤr berufen halten duͤrfe auf dieſe
Art an dem Menſchen zu arbeiten, wie Sterne und
Wieland es zuweilen gethan haben. Man iſt denen,
die ſich an ein ſo ſchweres Unternehmen wagen und,
ob ſchon wider ihre Abſicht, mehr Schaden als Vortheil
ſtiften, wenig Nachſicht ſchuldig, noch weniger als
den mittelmaͤßigen Dichtern. Der Arzt der mit heroi-
ſchen Arzneyen nur unvorſichtig umgehet, verdient den
ſchaͤrfſten Tadel. Doch muß man auch ſo billig ſeyn
und den Schaden oder den Nutzen, den ſie ſtiften, nicht
nach der Einbildung ſolcher Leute ſchaͤtzen, die nach ih-
ren einſeitigen und engen Begriffen urtheilen.

IV.
Von| der einſeitigen Vervollkommnung des Men-
ſchen.

1) Zu weit getriebene Vervollkommnung an ei-
ner Seite kann der Vollkommenheit der Na-
tur im Ganzen ſchaͤdlich werden.

2) Wie das Maß der Vervollkommnung an
einer Seite zu beſtimmen ſey, wo dieſe in
Ruͤckſicht auf die Vollkommenheit des Gan-
zen ein Groͤßtes iſt?

1.

Um den Werth der innern Menſchheit in den verſchie-
denen Formen, in denen ſie vor uns lieget, nur ei-
nigermaßen mit Vernunft zu ſchaͤtzen, muß auf alle ver-
ſchiedene Seiten, an denen der Menſch vervollkommnet

werden
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0652" n="622"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ver&#x017F;. Ueber die Perfektibilita&#x0364;t</hi></fw><lb/>
ko&#x0364;nnte. Jnde&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t es eben &#x017F;o gewiß, daß niemand,<lb/>
der nicht mit großer und inniger Kenntniß des men&#x017F;chli-<lb/>
chen Herzens die wa&#x0364;rme&#x017F;te Recht&#x017F;chaffenheit verbindet,<lb/>
die unverru&#x0364;ckt der Tugend getreu bleibet, wenn &#x017F;ie gleich<lb/>
zuweilen den Schein annimmt, als gehe &#x017F;ie zu ihren<lb/>
Feinden u&#x0364;ber, &#x017F;ich fu&#x0364;r berufen halten du&#x0364;rfe auf die&#x017F;e<lb/>
Art an dem Men&#x017F;chen zu arbeiten, wie <hi rendition="#fr">Sterne</hi> und<lb/><hi rendition="#fr">Wieland</hi> es zuweilen gethan haben. Man i&#x017F;t denen,<lb/>
die &#x017F;ich an ein &#x017F;o &#x017F;chweres Unternehmen wagen und,<lb/>
ob &#x017F;chon wider ihre Ab&#x017F;icht, mehr Schaden als Vortheil<lb/>
&#x017F;tiften, wenig Nach&#x017F;icht &#x017F;chuldig, noch weniger als<lb/>
den mittelma&#x0364;ßigen Dichtern. Der Arzt der mit heroi-<lb/>
&#x017F;chen Arzneyen nur unvor&#x017F;ichtig umgehet, verdient den<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;rf&#x017F;ten Tadel. Doch muß man auch &#x017F;o billig &#x017F;eyn<lb/>
und den Schaden oder den Nutzen, den &#x017F;ie &#x017F;tiften, nicht<lb/>
nach der Einbildung &#x017F;olcher Leute &#x017F;cha&#x0364;tzen, die nach ih-<lb/>
ren ein&#x017F;eitigen und engen Begriffen urtheilen.</p>
            </div>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head><hi rendition="#aq">IV.</hi><lb/>
Von| der ein&#x017F;eitigen Vervollkommnung des Men-<lb/>
&#x017F;chen.</head><lb/>
            <argument>
              <p>
                <list>
                  <item>1) <hi rendition="#fr">Zu weit getriebene Vervollkommnung an ei-<lb/>
ner Seite kann der Vollkommenheit der Na-<lb/>
tur im Ganzen &#x017F;cha&#x0364;dlich werden.</hi></item><lb/>
                  <item>2) <hi rendition="#fr">Wie das Maß der Vervollkommnung an<lb/>
einer Seite zu be&#x017F;timmen &#x017F;ey, wo die&#x017F;e in<lb/>
Ru&#x0364;ck&#x017F;icht auf die Vollkommenheit des Gan-<lb/>
zen ein Gro&#x0364;ßtes i&#x017F;t?</hi></item>
                </list>
              </p>
            </argument><lb/>
            <div n="4">
              <head>1.</head><lb/>
              <p><hi rendition="#in">U</hi>m den Werth der innern Men&#x017F;chheit in den ver&#x017F;chie-<lb/>
denen Formen, in denen &#x017F;ie vor uns lieget, nur ei-<lb/>
nigermaßen mit Vernunft zu &#x017F;cha&#x0364;tzen, muß auf alle ver-<lb/>
&#x017F;chiedene Seiten, an denen der Men&#x017F;ch vervollkommnet<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">werden</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[622/0652] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt koͤnnte. Jndeſſen iſt es eben ſo gewiß, daß niemand, der nicht mit großer und inniger Kenntniß des menſchli- chen Herzens die waͤrmeſte Rechtſchaffenheit verbindet, die unverruͤckt der Tugend getreu bleibet, wenn ſie gleich zuweilen den Schein annimmt, als gehe ſie zu ihren Feinden uͤber, ſich fuͤr berufen halten duͤrfe auf dieſe Art an dem Menſchen zu arbeiten, wie Sterne und Wieland es zuweilen gethan haben. Man iſt denen, die ſich an ein ſo ſchweres Unternehmen wagen und, ob ſchon wider ihre Abſicht, mehr Schaden als Vortheil ſtiften, wenig Nachſicht ſchuldig, noch weniger als den mittelmaͤßigen Dichtern. Der Arzt der mit heroi- ſchen Arzneyen nur unvorſichtig umgehet, verdient den ſchaͤrfſten Tadel. Doch muß man auch ſo billig ſeyn und den Schaden oder den Nutzen, den ſie ſtiften, nicht nach der Einbildung ſolcher Leute ſchaͤtzen, die nach ih- ren einſeitigen und engen Begriffen urtheilen. IV. Von| der einſeitigen Vervollkommnung des Men- ſchen. 1) Zu weit getriebene Vervollkommnung an ei- ner Seite kann der Vollkommenheit der Na- tur im Ganzen ſchaͤdlich werden. 2) Wie das Maß der Vervollkommnung an einer Seite zu beſtimmen ſey, wo dieſe in Ruͤckſicht auf die Vollkommenheit des Gan- zen ein Groͤßtes iſt? 1. Um den Werth der innern Menſchheit in den verſchie- denen Formen, in denen ſie vor uns lieget, nur ei- nigermaßen mit Vernunft zu ſchaͤtzen, muß auf alle ver- ſchiedene Seiten, an denen der Menſch vervollkommnet werden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/652
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 622. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/652>, abgerufen am 22.11.2024.