Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.und Entwickelung des Menschen. werden kann, Rücksicht genommen werden. Das erste,was hiebey in Betracht zu ziehen, ist die einseitige Perficirung und der Werth derselben in Hinsicht auf das Ganze im Menschen. Obgleich die Grundvermö- gen der Seele, das Gefühl, die Denkkraft und der Wille in der genauesten Verbindung stehen und wech- selseitig einander erheben, so daß keines von ihnen er- weitert oder verstärket wird, ohne daß die übrigen An- theil daran nehmen: so ist doch nichts gewisser, als daß die Entwickelung der Vermögen nicht bey zwey Jndi- viduen in demselbigen Verhältniß vor sich gehe. Hier wächset eine Fähigkeit zu einer außerordentlichen Höhe, da andere unter der Stufe zurückbleiben, wozu sie in dem gemeinen Menschenverstande gebracht sind. Bey den besondern Vermögen kann diese Verschiedenheit so weit gehen, wie an den Bäumen, bey denen ein Zweig ganz abstirbt, indem ein anderer desto stärker treibet. Ohne Zweifel ist in der Anlage der Natur schon der er- ste Grund zu diesen verschiedenen Verhältnissen, worun- ter einige solche Mißverhältnisse | seyn können, daß man sie für geistige Mißgeburten halten kann. Größten- theils aber hängt dieß von den äußern hinzukommenden Ursachen bey der Entwickelung ab. Wie bey den Kör- pern das Geblüt und die Nahrungssäfte zu heftig nach einem Theil hingetrieben und dadurch eine Mißgestalt veranlaßt werden kann, so können auch die äußern Ursachen auf eine Kraft der Seele so stark wirken, daß andere zu sehr zurückbleiben. Alsdenn mögen an ei- ner Seite glänzende Vorzüge entstehen, aber an der an- dern sind so viele Mängel und Schwachheiten damit ver- bunden, daß infelix operis summa daraus wird. Dieß sind einseitige Perficirungen. Fontaine, der naive Fa- beldichter, ist, wenn seine Biographen nichts übertreiben, im gemeinen Leben ein einfältiger Mensch gewesen. Der Mann vom größten Verstande, der große Staatsmann, der
und Entwickelung des Menſchen. werden kann, Ruͤckſicht genommen werden. Das erſte,was hiebey in Betracht zu ziehen, iſt die einſeitige Perficirung und der Werth derſelben in Hinſicht auf das Ganze im Menſchen. Obgleich die Grundvermoͤ- gen der Seele, das Gefuͤhl, die Denkkraft und der Wille in der genaueſten Verbindung ſtehen und wech- ſelſeitig einander erheben, ſo daß keines von ihnen er- weitert oder verſtaͤrket wird, ohne daß die uͤbrigen An- theil daran nehmen: ſo iſt doch nichts gewiſſer, als daß die Entwickelung der Vermoͤgen nicht bey zwey Jndi- viduen in demſelbigen Verhaͤltniß vor ſich gehe. Hier waͤchſet eine Faͤhigkeit zu einer außerordentlichen Hoͤhe, da andere unter der Stufe zuruͤckbleiben, wozu ſie in dem gemeinen Menſchenverſtande gebracht ſind. Bey den beſondern Vermoͤgen kann dieſe Verſchiedenheit ſo weit gehen, wie an den Baͤumen, bey denen ein Zweig ganz abſtirbt, indem ein anderer deſto ſtaͤrker treibet. Ohne Zweifel iſt in der Anlage der Natur ſchon der er- ſte Grund zu dieſen verſchiedenen Verhaͤltniſſen, worun- ter einige ſolche Mißverhaͤltniſſe | ſeyn koͤnnen, daß man ſie fuͤr geiſtige Mißgeburten halten kann. Groͤßten- theils aber haͤngt dieß von den aͤußern hinzukommenden Urſachen bey der Entwickelung ab. Wie bey den Koͤr- pern das Gebluͤt und die Nahrungsſaͤfte zu heftig nach einem Theil hingetrieben und dadurch eine Mißgeſtalt veranlaßt werden kann, ſo koͤnnen auch die aͤußern Urſachen auf eine Kraft der Seele ſo ſtark wirken, daß andere zu ſehr zuruͤckbleiben. Alsdenn moͤgen an ei- ner Seite glaͤnzende Vorzuͤge entſtehen, aber an der an- dern ſind ſo viele Maͤngel und Schwachheiten damit ver- bunden, daß infelix operis ſumma daraus wird. Dieß ſind einſeitige Perficirungen. Fontaine, der naive Fa- beldichter, iſt, wenn ſeine Biographen nichts uͤbertreiben, im gemeinen Leben ein einfaͤltiger Menſch geweſen. Der Mann vom groͤßten Verſtande, der große Staatsmann, der
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Perficirung und der Werth derſelben in Hinſicht auf
das Ganze im Menſchen. Obgleich die Grundvermoͤ-
gen der Seele, das Gefuͤhl, die Denkkraft und der
Wille in der genaueſten Verbindung ſtehen und wech-
ſelſeitig einander erheben, ſo daß keines von ihnen er-
weitert oder verſtaͤrket wird, ohne daß die uͤbrigen An-
theil daran nehmen: ſo iſt doch nichts gewiſſer, als daß
die Entwickelung der Vermoͤgen nicht bey zwey Jndi-
viduen in demſelbigen Verhaͤltniß vor ſich gehe. Hier
waͤchſet eine Faͤhigkeit zu einer außerordentlichen Hoͤhe,
da andere unter der Stufe zuruͤckbleiben, wozu ſie in
dem gemeinen Menſchenverſtande gebracht ſind. Bey
den beſondern Vermoͤgen kann dieſe Verſchiedenheit ſo
weit gehen, wie an den Baͤumen, bey denen ein Zweig
ganz abſtirbt, indem ein anderer deſto ſtaͤrker treibet.
Ohne Zweifel iſt in der Anlage der Natur ſchon der er-
ſte Grund zu dieſen verſchiedenen Verhaͤltniſſen, worun-
ter einige ſolche Mißverhaͤltniſſe | ſeyn koͤnnen, daß man
ſie fuͤr geiſtige Mißgeburten halten kann. Groͤßten-
theils aber haͤngt dieß von den aͤußern hinzukommenden
Urſachen bey der Entwickelung ab. Wie bey den Koͤr-
pern das Gebluͤt und die Nahrungsſaͤfte zu heftig nach
einem Theil hingetrieben und dadurch eine Mißgeſtalt
veranlaßt werden kann, ſo koͤnnen auch die aͤußern
Urſachen auf eine Kraft der Seele ſo ſtark wirken, daß
andere zu ſehr zuruͤckbleiben. Alsdenn moͤgen an ei-
ner Seite glaͤnzende Vorzuͤge entſtehen, aber an der an-
dern ſind ſo viele Maͤngel und Schwachheiten damit ver-
bunden, daß infelix operis ſumma daraus wird. Dieß
ſind einſeitige Perficirungen. Fontaine, der naive Fa-
beldichter, iſt, wenn ſeine Biographen nichts uͤbertreiben,
im gemeinen Leben ein einfaͤltiger Menſch geweſen. Der
Mann vom groͤßten Verſtande, der große Staatsmann,
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