der Held, aufgelegt zu heroischen Thaten, der Mann von dem richtigsten und feinsten Geschmack und vom zärtesten|moralischen Gefühl, ist mit diesen einzelnen Voll- kommenheiten noch kein großer Mensch in aller Hinsicht.
"Die Seelenvermögen unterstützen sich und helfen "sich nur fort bis zu einer gewissen Grenze." Alsdenn hindern sie sich und unterdrücken einander. Jede na- türliche Anlage will auch unmittelbar gereizet seyn, um entwickelt zu werden. Eine zu starke Beschäftigung des Einen Vermögens muß also für sich dem andern schon dadurch hinderlich werden, daß es ihm die Zeit und Gelegenheit entziehet, thätig zu werden. Wird die Liebe für eine besondere Art von Beschäftigungen zur Leidenschaft, so fesselt sie die Kräfte in Hinsicht auf an- dere. Das Herz bleibet oft unbearbeitet, wo alles Be- streben auf die Anfüllung des Kopfs und des Gedächt- nisses hingehet. Jst nun vollends ein Vermögen schon zur Fertigkeit geworden, und sind andere dagegen in ihrer natürlichen Schwäche geblieben, so wird jenes sich noch mehr bey allen Gelegenheiten hervordringen, die übri- gen zurückhalten, und also die Ungleichheit zwischen ih- nen vergrößern. Es wächset auch die Unlust an Arbei- ten, wozu wir weniger geschickt sind. Die Aeußerun- gen mit der vorzüglichen Kraft sind mehr angenehm, und ziehen auch mehr die neuen hinzukommenden Jdeen wie einen Nahrungssaft an sich, und entwenden sie den übri- gen, die hiedurch so gar auch den Grad von Stärke, den sie durch die sich allgemein verbreitende Kraft der Seele und durch vorhergegangene zufällige Ursachen erlangt hatten, wieder verlieren können. Sie werden wie mit Rost überzogen, und stumpf. Jndessen kommt es hiebey wiederum auf ein gewisses Maß an. Es brin- get noch der Gesundheit des ganzen Körpers keinen Schaden, wenn besondere Glieder mehr gebraucht wer- den und dadurch mehr Festigkeit und Stärke erhalten,
als
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
der Held, aufgelegt zu heroiſchen Thaten, der Mann von dem richtigſten und feinſten Geſchmack und vom zaͤrteſten|moraliſchen Gefuͤhl, iſt mit dieſen einzelnen Voll- kommenheiten noch kein großer Menſch in aller Hinſicht.
„Die Seelenvermoͤgen unterſtuͤtzen ſich und helfen „ſich nur fort bis zu einer gewiſſen Grenze.‟ Alsdenn hindern ſie ſich und unterdruͤcken einander. Jede na- tuͤrliche Anlage will auch unmittelbar gereizet ſeyn, um entwickelt zu werden. Eine zu ſtarke Beſchaͤftigung des Einen Vermoͤgens muß alſo fuͤr ſich dem andern ſchon dadurch hinderlich werden, daß es ihm die Zeit und Gelegenheit entziehet, thaͤtig zu werden. Wird die Liebe fuͤr eine beſondere Art von Beſchaͤftigungen zur Leidenſchaft, ſo feſſelt ſie die Kraͤfte in Hinſicht auf an- dere. Das Herz bleibet oft unbearbeitet, wo alles Be- ſtreben auf die Anfuͤllung des Kopfs und des Gedaͤcht- niſſes hingehet. Jſt nun vollends ein Vermoͤgen ſchon zur Fertigkeit geworden, und ſind andere dagegen in ihrer natuͤrlichen Schwaͤche geblieben, ſo wird jenes ſich noch mehr bey allen Gelegenheiten hervordringen, die uͤbri- gen zuruͤckhalten, und alſo die Ungleichheit zwiſchen ih- nen vergroͤßern. Es waͤchſet auch die Unluſt an Arbei- ten, wozu wir weniger geſchickt ſind. Die Aeußerun- gen mit der vorzuͤglichen Kraft ſind mehr angenehm, und ziehen auch mehr die neuen hinzukommenden Jdeen wie einen Nahrungsſaft an ſich, und entwenden ſie den uͤbri- gen, die hiedurch ſo gar auch den Grad von Staͤrke, den ſie durch die ſich allgemein verbreitende Kraft der Seele und durch vorhergegangene zufaͤllige Urſachen erlangt hatten, wieder verlieren koͤnnen. Sie werden wie mit Roſt uͤberzogen, und ſtumpf. Jndeſſen kommt es hiebey wiederum auf ein gewiſſes Maß an. Es brin- get noch der Geſundheit des ganzen Koͤrpers keinen Schaden, wenn beſondere Glieder mehr gebraucht wer- den und dadurch mehr Feſtigkeit und Staͤrke erhalten,
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
der Held, aufgelegt zu heroiſchen Thaten, der Mann
von dem richtigſten und feinſten Geſchmack und vom
zaͤrteſten|moraliſchen Gefuͤhl, iſt mit dieſen einzelnen Voll-
kommenheiten noch kein großer Menſch in aller Hinſicht.
„Die Seelenvermoͤgen unterſtuͤtzen ſich und helfen
„ſich nur fort bis zu einer gewiſſen Grenze.‟ Alsdenn
hindern ſie ſich und unterdruͤcken einander. Jede na-
tuͤrliche Anlage will auch unmittelbar gereizet ſeyn,
um entwickelt zu werden. Eine zu ſtarke Beſchaͤftigung
des Einen Vermoͤgens muß alſo fuͤr ſich dem andern
ſchon dadurch hinderlich werden, daß es ihm die Zeit
und Gelegenheit entziehet, thaͤtig zu werden. Wird
die Liebe fuͤr eine beſondere Art von Beſchaͤftigungen zur
Leidenſchaft, ſo feſſelt ſie die Kraͤfte in Hinſicht auf an-
dere. Das Herz bleibet oft unbearbeitet, wo alles Be-
ſtreben auf die Anfuͤllung des Kopfs und des Gedaͤcht-
niſſes hingehet. Jſt nun vollends ein Vermoͤgen ſchon
zur Fertigkeit geworden, und ſind andere dagegen in ihrer
natuͤrlichen Schwaͤche geblieben, ſo wird jenes ſich noch
mehr bey allen Gelegenheiten hervordringen, die uͤbri-
gen zuruͤckhalten, und alſo die Ungleichheit zwiſchen ih-
nen vergroͤßern. Es waͤchſet auch die Unluſt an Arbei-
ten, wozu wir weniger geſchickt ſind. Die Aeußerun-
gen mit der vorzuͤglichen Kraft ſind mehr angenehm, und
ziehen auch mehr die neuen hinzukommenden Jdeen wie
einen Nahrungsſaft an ſich, und entwenden ſie den uͤbri-
gen, die hiedurch ſo gar auch den Grad von Staͤrke, den
ſie durch die ſich allgemein verbreitende Kraft der Seele
und durch vorhergegangene zufaͤllige Urſachen erlangt
hatten, wieder verlieren koͤnnen. Sie werden wie
mit Roſt uͤberzogen, und ſtumpf. Jndeſſen kommt es
hiebey wiederum auf ein gewiſſes Maß an. Es brin-
get noch der Geſundheit des ganzen Koͤrpers keinen
Schaden, wenn beſondere Glieder mehr gebraucht wer-
den und dadurch mehr Feſtigkeit und Staͤrke erhalten,
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 624. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/654>, abgerufen am 23.11.2024.
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