Menschen geschätzet werden soll. Sie sind als Be- standtheile seiner physischen Realität anzusehen. Sie sind Werkzeuge und Mittel, die Kräfte der Seele in Thätigkeit zu setzen und ihre Vergrößerung zu beför- dern. Sie haben einen respektiven Werth wegen ihres Einflusses auf die Empfindungen. Und überdieß ist der Körper selbst ein Bestandtheil des Menschen. Auch der gemeine Verstand schätzet sie für sich betrachtet. Kör- perliche Stärke und Größe erreget Achtung für den der sie besitzet, und der Verlust der Gliedmaßen wird für eine Verstümmelung des Menschen angesehen, wie auch der Kastrate nach den gemeinen Begriffen kein völliger Mensch mehr ist.
Soll also Mensch mit Mensch, und die Größe der Menschheit in einem Subjekt mit der Größe der Menschheit in dem andern, verglichen werden: so wird das Urtheil zwar falsch seyn, wenn man, wie ein Skla- venhändler oder wie Soldatenwerber, nur Körper ge- gen Körper hält. Aber es wird gleichfalls auf der an- dern Seite einseitig seyn, wenn nur allein auf Seelen- kräfte gerechnet wird. Sollten die körperlichen Vorzü- ge, welche die Wilden gemeiniglich vor den Polizirten voraus haben, für nichts gelten, wenn man sie mit die- sen zur Vergleichung bringet. Das wäre sogar gegen das Gefühl der vernünftigen Reisenden. Man möchte sich jener ihre körperliche Stärke und Geschwindigkeit wünschen, wenn sie nur ohne Nachtheil anderer Voll- kommenheiten zu erlangen wäre.
Da ist also der Grundsatz, bey dem man in der Anthropometrie anfangen muß. Es giebt Realitä- ten in der Seele, es giebt Realitäten am Kör- per; die Summe von beiden zusammen macht die ganze Größe der Menschheit aus. Aber diese beiden Arten von Perfektionen sind so verschiedener Na- tur, als es die Seele und der Körper selbst sind. Dar-
um
und Entwickelung des Menſchen.
Menſchen geſchaͤtzet werden ſoll. Sie ſind als Be- ſtandtheile ſeiner phyſiſchen Realitaͤt anzuſehen. Sie ſind Werkzeuge und Mittel, die Kraͤfte der Seele in Thaͤtigkeit zu ſetzen und ihre Vergroͤßerung zu befoͤr- dern. Sie haben einen reſpektiven Werth wegen ihres Einfluſſes auf die Empfindungen. Und uͤberdieß iſt der Koͤrper ſelbſt ein Beſtandtheil des Menſchen. Auch der gemeine Verſtand ſchaͤtzet ſie fuͤr ſich betrachtet. Koͤr- perliche Staͤrke und Groͤße erreget Achtung fuͤr den der ſie beſitzet, und der Verluſt der Gliedmaßen wird fuͤr eine Verſtuͤmmelung des Menſchen angeſehen, wie auch der Kaſtrate nach den gemeinen Begriffen kein voͤlliger Menſch mehr iſt.
Soll alſo Menſch mit Menſch, und die Groͤße der Menſchheit in einem Subjekt mit der Groͤße der Menſchheit in dem andern, verglichen werden: ſo wird das Urtheil zwar falſch ſeyn, wenn man, wie ein Skla- venhaͤndler oder wie Soldatenwerber, nur Koͤrper ge- gen Koͤrper haͤlt. Aber es wird gleichfalls auf der an- dern Seite einſeitig ſeyn, wenn nur allein auf Seelen- kraͤfte gerechnet wird. Sollten die koͤrperlichen Vorzuͤ- ge, welche die Wilden gemeiniglich vor den Polizirten voraus haben, fuͤr nichts gelten, wenn man ſie mit die- ſen zur Vergleichung bringet. Das waͤre ſogar gegen das Gefuͤhl der vernuͤnftigen Reiſenden. Man moͤchte ſich jener ihre koͤrperliche Staͤrke und Geſchwindigkeit wuͤnſchen, wenn ſie nur ohne Nachtheil anderer Voll- kommenheiten zu erlangen waͤre.
Da iſt alſo der Grundſatz, bey dem man in der Anthropometrie anfangen muß. Es giebt Realitaͤ- ten in der Seele, es giebt Realitaͤten am Koͤr- per; die Summe von beiden zuſammen macht die ganze Groͤße der Menſchheit aus. Aber dieſe beiden Arten von Perfektionen ſind ſo verſchiedener Na- tur, als es die Seele und der Koͤrper ſelbſt ſind. Dar-
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und Entwickelung des Menſchen.
Menſchen geſchaͤtzet werden ſoll. Sie ſind als Be-
ſtandtheile ſeiner phyſiſchen Realitaͤt anzuſehen. Sie
ſind Werkzeuge und Mittel, die Kraͤfte der Seele in
Thaͤtigkeit zu ſetzen und ihre Vergroͤßerung zu befoͤr-
dern. Sie haben einen reſpektiven Werth wegen ihres
Einfluſſes auf die Empfindungen. Und uͤberdieß iſt der
Koͤrper ſelbſt ein Beſtandtheil des Menſchen. Auch
der gemeine Verſtand ſchaͤtzet ſie fuͤr ſich betrachtet. Koͤr-
perliche Staͤrke und Groͤße erreget Achtung fuͤr den der
ſie beſitzet, und der Verluſt der Gliedmaßen wird fuͤr
eine Verſtuͤmmelung des Menſchen angeſehen, wie auch
der Kaſtrate nach den gemeinen Begriffen kein voͤlliger
Menſch mehr iſt.
Soll alſo Menſch mit Menſch, und die Groͤße der
Menſchheit in einem Subjekt mit der Groͤße der
Menſchheit in dem andern, verglichen werden: ſo wird
das Urtheil zwar falſch ſeyn, wenn man, wie ein Skla-
venhaͤndler oder wie Soldatenwerber, nur Koͤrper ge-
gen Koͤrper haͤlt. Aber es wird gleichfalls auf der an-
dern Seite einſeitig ſeyn, wenn nur allein auf Seelen-
kraͤfte gerechnet wird. Sollten die koͤrperlichen Vorzuͤ-
ge, welche die Wilden gemeiniglich vor den Polizirten
voraus haben, fuͤr nichts gelten, wenn man ſie mit die-
ſen zur Vergleichung bringet. Das waͤre ſogar gegen
das Gefuͤhl der vernuͤnftigen Reiſenden. Man moͤchte
ſich jener ihre koͤrperliche Staͤrke und Geſchwindigkeit
wuͤnſchen, wenn ſie nur ohne Nachtheil anderer Voll-
kommenheiten zu erlangen waͤre.
Da iſt alſo der Grundſatz, bey dem man in der
Anthropometrie anfangen muß. Es giebt Realitaͤ-
ten in der Seele, es giebt Realitaͤten am Koͤr-
per; die Summe von beiden zuſammen macht
die ganze Groͤße der Menſchheit aus. Aber dieſe
beiden Arten von Perfektionen ſind ſo verſchiedener Na-
tur, als es die Seele und der Koͤrper ſelbſt ſind. Dar-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 637. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/667>, abgerufen am 24.11.2024.
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