um ist es unmöglich zu beiden eine gemeinschaftliche Ein- heit zu finden, so lange man sie für sich betrachtet. Des- wegen läßt sich auch die ganze Menschheit in Einem gegen die ganze Menschheit in dem andern niemals rich- tig schätzen, wenn nicht etwan die Größe der angeneh- men und unangenehmen Empfindungen, die mit ihrem Besitz oder mit ihrem Mangel verbunden sind, zum gemeinschaftlichen Maß zu gebrauchen ist. Jndessen ist es doch nöthig, sich hierüber bestimmtere Begriffe zu machen. Denn wenn es freylich auf einer Seite ein Fehler ist die körperlichen Vollkommenheiten zu sehr her- unterzusetzen, so würde es doch auch auf der andern Sei- te eine Erniedrigung der Menschheit seyn, sie in Ver- gleichung mit den Seelenvollkommenheiten zu sehr zu er- heben. Die Betrachtung des Menschen von seinen bei- den Seiten kann uns doch nahe an der Mitte halten, wo die wahre Grenze zwischen dem Zuviel und Zuwenig ist.
Die Organisation der Materie im Körper, die Ue- bereinstimmung aller Theile zum Ganzen, die Wunder in den Werkzeugen der Sinne; der Mechanismus, die Größe, die Vestigkeit, die Beugsamkeit in den Werk- zeugen der Bewegung; dieß ganze Meisterstück der Schöpfung mag, für sich allein betrachtet, einen unend- lich großen Jnbegriff von physischen Realitäten ausma- chen: so kann doch das Mehr oder Weniger hierinnen dasjenige nicht seyn, wodurch der Mensch mehr oder weniger ein Mensch wird. Dadurch wird nicht einmal das Thier mehr oder weniger ein Thier. Die Voll- kommenheit der Maschine ist nur eine Vollkommenheit in Hinsicht auf ihren Gebrauch und auf den Zweck, wo- zu sie gebraucht werden kann. Wenn das Auge bey einer geringern Größe und bey einer einfachern Struktur uns eben die Dienste leisten könnte, die es leistet, so würden wir in der unendlichen Mannichfaltigkeit und Feinheit seiner Theile ehe eine unnütze Künsteley an-
treffen,
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
um iſt es unmoͤglich zu beiden eine gemeinſchaftliche Ein- heit zu finden, ſo lange man ſie fuͤr ſich betrachtet. Des- wegen laͤßt ſich auch die ganze Menſchheit in Einem gegen die ganze Menſchheit in dem andern niemals rich- tig ſchaͤtzen, wenn nicht etwan die Groͤße der angeneh- men und unangenehmen Empfindungen, die mit ihrem Beſitz oder mit ihrem Mangel verbunden ſind, zum gemeinſchaftlichen Maß zu gebrauchen iſt. Jndeſſen iſt es doch noͤthig, ſich hieruͤber beſtimmtere Begriffe zu machen. Denn wenn es freylich auf einer Seite ein Fehler iſt die koͤrperlichen Vollkommenheiten zu ſehr her- unterzuſetzen, ſo wuͤrde es doch auch auf der andern Sei- te eine Erniedrigung der Menſchheit ſeyn, ſie in Ver- gleichung mit den Seelenvollkommenheiten zu ſehr zu er- heben. Die Betrachtung des Menſchen von ſeinen bei- den Seiten kann uns doch nahe an der Mitte halten, wo die wahre Grenze zwiſchen dem Zuviel und Zuwenig iſt.
Die Organiſation der Materie im Koͤrper, die Ue- bereinſtimmung aller Theile zum Ganzen, die Wunder in den Werkzeugen der Sinne; der Mechanismus, die Groͤße, die Veſtigkeit, die Beugſamkeit in den Werk- zeugen der Bewegung; dieß ganze Meiſterſtuͤck der Schoͤpfung mag, fuͤr ſich allein betrachtet, einen unend- lich großen Jnbegriff von phyſiſchen Realitaͤten ausma- chen: ſo kann doch das Mehr oder Weniger hierinnen dasjenige nicht ſeyn, wodurch der Menſch mehr oder weniger ein Menſch wird. Dadurch wird nicht einmal das Thier mehr oder weniger ein Thier. Die Voll- kommenheit der Maſchine iſt nur eine Vollkommenheit in Hinſicht auf ihren Gebrauch und auf den Zweck, wo- zu ſie gebraucht werden kann. Wenn das Auge bey einer geringern Groͤße und bey einer einfachern Struktur uns eben die Dienſte leiſten koͤnnte, die es leiſtet, ſo wuͤrden wir in der unendlichen Mannichfaltigkeit und Feinheit ſeiner Theile ehe eine unnuͤtze Kuͤnſteley an-
treffen,
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
um iſt es unmoͤglich zu beiden eine gemeinſchaftliche Ein-
heit zu finden, ſo lange man ſie fuͤr ſich betrachtet. Des-
wegen laͤßt ſich auch die ganze Menſchheit in Einem
gegen die ganze Menſchheit in dem andern niemals rich-
tig ſchaͤtzen, wenn nicht etwan die Groͤße der angeneh-
men und unangenehmen Empfindungen, die mit ihrem
Beſitz oder mit ihrem Mangel verbunden ſind, zum
gemeinſchaftlichen Maß zu gebrauchen iſt. Jndeſſen
iſt es doch noͤthig, ſich hieruͤber beſtimmtere Begriffe zu
machen. Denn wenn es freylich auf einer Seite ein
Fehler iſt die koͤrperlichen Vollkommenheiten zu ſehr her-
unterzuſetzen, ſo wuͤrde es doch auch auf der andern Sei-
te eine Erniedrigung der Menſchheit ſeyn, ſie in Ver-
gleichung mit den Seelenvollkommenheiten zu ſehr zu er-
heben. Die Betrachtung des Menſchen von ſeinen bei-
den Seiten kann uns doch nahe an der Mitte halten, wo
die wahre Grenze zwiſchen dem Zuviel und Zuwenig iſt.
Die Organiſation der Materie im Koͤrper, die Ue-
bereinſtimmung aller Theile zum Ganzen, die Wunder in
den Werkzeugen der Sinne; der Mechanismus, die
Groͤße, die Veſtigkeit, die Beugſamkeit in den Werk-
zeugen der Bewegung; dieß ganze Meiſterſtuͤck der
Schoͤpfung mag, fuͤr ſich allein betrachtet, einen unend-
lich großen Jnbegriff von phyſiſchen Realitaͤten ausma-
chen: ſo kann doch das Mehr oder Weniger hierinnen
dasjenige nicht ſeyn, wodurch der Menſch mehr oder
weniger ein Menſch wird. Dadurch wird nicht einmal
das Thier mehr oder weniger ein Thier. Die Voll-
kommenheit der Maſchine iſt nur eine Vollkommenheit
in Hinſicht auf ihren Gebrauch und auf den Zweck, wo-
zu ſie gebraucht werden kann. Wenn das Auge bey
einer geringern Groͤße und bey einer einfachern Struktur
uns eben die Dienſte leiſten koͤnnte, die es leiſtet, ſo
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 638. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/668>, abgerufen am 24.11.2024.
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