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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
haftigkeit und Stärke der sinnlichen Vorstellungskraft
beruhet noch in einem Grade mehr auf der Beywirkung
des Gehirns, als der höhere Verstand und als die Tu-
gend. Es ist schwer und fast unmöglich, den Antheil
von jedem bestimmt anzugeben. Allein so viel ist doch
gewiß, daß deutliche Jdeen mehr eine Wirkung von
dem innern selbstthätigen Princip der Seele sind, als
undeutliche und verwirrte; und daß überhaupt Jdeen
und Begriffe, insoferne sie Gedanken sind, mehr von
der Eigenmacht der Seele herrühren, als insoferne sie
in bildlichen Vorstellungen bestehen. Das Hauptge-
schäffte der Vernunft ist dieß, daß sie Beziehungen und
Verhältnisse macht, und Deutlichkeit bewirket. Da-
durch bearbeitet sie die Empfindungen und die Bilder.
Dagegen ist das Hauptgeschäffte der Phantasie und der
Dichtkraft, daß sie Bilder aufnimmt, erwecket, trennet,
auflöset, verbindet und zusammensetzet. Zu diesem ist
der Beytrag des Organs größer, als zu den Aktionen der
eigentlichen Denkkraft, worinn die Wirkungen des Ver-
standes und der Vernunft bestehen. Jndessen reichet
dieses noch nicht weiter, als daß man nur überhaupt
den Verstand mehr als die Dichtkraft, und die Tugend
mehr als den Verstand, für eine eigentliche Wirkung der
Selbstthätigkeit ansehen könne. Es ist aber lange nicht
genug, um in einzelnen Fällen über verschiedenartige
Genies, wie Shakespear und Newton, zu urtheilen.
Dieß wird sich noch deutlicher zeigen, wenn vorher auch
die innere Größe der Seele, die in der Empfindsam-
keit -- nicht Ueberspannung, welche Schwäche ist, --
lieget, nach demselben allgemeinen Grundsatz vergli-
chen ist.

Die Vermögen, welche wir als bloße Empfäng-
lichkeiten ansehen, wie das Gefühl und die Empfind-
samkeit,
halten wir, wie oben erinnert ist, nicht wei-
ter für innere Realitäten der Seele, als insoferne sie

selbst
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und Entwickelung des Menſchen.
haftigkeit und Staͤrke der ſinnlichen Vorſtellungskraft
beruhet noch in einem Grade mehr auf der Beywirkung
des Gehirns, als der hoͤhere Verſtand und als die Tu-
gend. Es iſt ſchwer und faſt unmoͤglich, den Antheil
von jedem beſtimmt anzugeben. Allein ſo viel iſt doch
gewiß, daß deutliche Jdeen mehr eine Wirkung von
dem innern ſelbſtthaͤtigen Princip der Seele ſind, als
undeutliche und verwirrte; und daß uͤberhaupt Jdeen
und Begriffe, inſoferne ſie Gedanken ſind, mehr von
der Eigenmacht der Seele herruͤhren, als inſoferne ſie
in bildlichen Vorſtellungen beſtehen. Das Hauptge-
ſchaͤffte der Vernunft iſt dieß, daß ſie Beziehungen und
Verhaͤltniſſe macht, und Deutlichkeit bewirket. Da-
durch bearbeitet ſie die Empfindungen und die Bilder.
Dagegen iſt das Hauptgeſchaͤffte der Phantaſie und der
Dichtkraft, daß ſie Bilder aufnimmt, erwecket, trennet,
aufloͤſet, verbindet und zuſammenſetzet. Zu dieſem iſt
der Beytrag des Organs groͤßer, als zu den Aktionen der
eigentlichen Denkkraft, worinn die Wirkungen des Ver-
ſtandes und der Vernunft beſtehen. Jndeſſen reichet
dieſes noch nicht weiter, als daß man nur uͤberhaupt
den Verſtand mehr als die Dichtkraft, und die Tugend
mehr als den Verſtand, fuͤr eine eigentliche Wirkung der
Selbſtthaͤtigkeit anſehen koͤnne. Es iſt aber lange nicht
genug, um in einzelnen Faͤllen uͤber verſchiedenartige
Genies, wie Shakeſpear und Newton, zu urtheilen.
Dieß wird ſich noch deutlicher zeigen, wenn vorher auch
die innere Groͤße der Seele, die in der Empfindſam-
keit — nicht Ueberſpannung, welche Schwaͤche iſt, —
lieget, nach demſelben allgemeinen Grundſatz vergli-
chen iſt.

Die Vermoͤgen, welche wir als bloße Empfaͤng-
lichkeiten anſehen, wie das Gefuͤhl und die Empfind-
ſamkeit,
halten wir, wie oben erinnert iſt, nicht wei-
ter fuͤr innere Realitaͤten der Seele, als inſoferne ſie

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[659/0689] und Entwickelung des Menſchen. haftigkeit und Staͤrke der ſinnlichen Vorſtellungskraft beruhet noch in einem Grade mehr auf der Beywirkung des Gehirns, als der hoͤhere Verſtand und als die Tu- gend. Es iſt ſchwer und faſt unmoͤglich, den Antheil von jedem beſtimmt anzugeben. Allein ſo viel iſt doch gewiß, daß deutliche Jdeen mehr eine Wirkung von dem innern ſelbſtthaͤtigen Princip der Seele ſind, als undeutliche und verwirrte; und daß uͤberhaupt Jdeen und Begriffe, inſoferne ſie Gedanken ſind, mehr von der Eigenmacht der Seele herruͤhren, als inſoferne ſie in bildlichen Vorſtellungen beſtehen. Das Hauptge- ſchaͤffte der Vernunft iſt dieß, daß ſie Beziehungen und Verhaͤltniſſe macht, und Deutlichkeit bewirket. Da- durch bearbeitet ſie die Empfindungen und die Bilder. Dagegen iſt das Hauptgeſchaͤffte der Phantaſie und der Dichtkraft, daß ſie Bilder aufnimmt, erwecket, trennet, aufloͤſet, verbindet und zuſammenſetzet. Zu dieſem iſt der Beytrag des Organs groͤßer, als zu den Aktionen der eigentlichen Denkkraft, worinn die Wirkungen des Ver- ſtandes und der Vernunft beſtehen. Jndeſſen reichet dieſes noch nicht weiter, als daß man nur uͤberhaupt den Verſtand mehr als die Dichtkraft, und die Tugend mehr als den Verſtand, fuͤr eine eigentliche Wirkung der Selbſtthaͤtigkeit anſehen koͤnne. Es iſt aber lange nicht genug, um in einzelnen Faͤllen uͤber verſchiedenartige Genies, wie Shakeſpear und Newton, zu urtheilen. Dieß wird ſich noch deutlicher zeigen, wenn vorher auch die innere Groͤße der Seele, die in der Empfindſam- keit — nicht Ueberſpannung, welche Schwaͤche iſt, — lieget, nach demſelben allgemeinen Grundſatz vergli- chen iſt. Die Vermoͤgen, welche wir als bloße Empfaͤng- lichkeiten anſehen, wie das Gefuͤhl und die Empfind- ſamkeit, halten wir, wie oben erinnert iſt, nicht wei- ter fuͤr innere Realitaͤten der Seele, als inſoferne ſie ſelbſt T t 2

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 659. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/689>, abgerufen am 26.11.2024.