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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
über sich und ihre Leidenschaften gebieten kann, muß da
fehlen, wo die Sinnlichkeit herrschet und wo die Ver-
nunft nur schwach ist. Der rohe Mensch vergißt sich
selbst bey jeder Anwandelung von Affekt. Jede Leiden-
schaft steiget in ihnen auf, wie ein zusammengehaltenes
Feuer, weil es ihr an Gelegenheit fehlt sich auszubreiten
und zu schwächen. Daher wissen sie so wenig von der
äußern Zurückhaltung ihrer Begierden. Jndessen sieht
man doch aus vielen Beyspielen, wie weit ihre Verstel-
lungskunst und Falschheit gehe; und dieß ist wiederum
ein Beweis, daß ihre Selbstthätigkeit nicht so ganz un-
vermögend sey, sich zu zwingen und zu regieren. Viel-
mehr da ihre Leidenschaften für sich so wütend sind, so
könnte man schließen, daß jene ziemlich groß seyn müsse,
wenn sie den äußern Ausbruch zurückzuhalten vermag.
Aber sie vermag dieß nur, wo sie von einer noch stär-
kern Leidenschaft unterstützet wird, wo z. B. Furcht und
Rachsucht sie beselet. Daher auch dieses etwanige Ver-
mögen sich zu regieren von der höhern Selbstmacht der
Seele über sich weit entfernt ist. Es versteht sich, daß
dieß nicht so viel heiße, daß die Grundkraft der Tugend
ganz und gar bey ihnen unwirksam sey. Wenn man
erwägt, wie viel Schwäche diese bey den kultivirtesten
Menschen noch hat, so wird man wiederum den Abstand
zwischen diesen und jenen merklich vermindert finden.
Jm Ganzen aber die Vergleichung gemacht, hat der
kultivirte Mensch eine innere Welt für sich, die weit ein-
geschränkter in dem Wilden ist.

Wenn man dieß gesagte zusammennimmt, so schei-
net es doch, es lasse sich daraus eine Folge ziehen, die
von großer Erheblichkeit ist, nämlich: "daß der Grad
"der Entwickelung und Erhöhung in der Seele, |von
"der Geburt an bis so weit, als solche in |einem| der
"niedrigsten aber sonst völlig aufgewachsenen Wilden
"vorhanden ist, gerechnet, einen größern Fortgang |in

"der
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und Entwickelung des Menſchen.
uͤber ſich und ihre Leidenſchaften gebieten kann, muß da
fehlen, wo die Sinnlichkeit herrſchet und wo die Ver-
nunft nur ſchwach iſt. Der rohe Menſch vergißt ſich
ſelbſt bey jeder Anwandelung von Affekt. Jede Leiden-
ſchaft ſteiget in ihnen auf, wie ein zuſammengehaltenes
Feuer, weil es ihr an Gelegenheit fehlt ſich auszubreiten
und zu ſchwaͤchen. Daher wiſſen ſie ſo wenig von der
aͤußern Zuruͤckhaltung ihrer Begierden. Jndeſſen ſieht
man doch aus vielen Beyſpielen, wie weit ihre Verſtel-
lungskunſt und Falſchheit gehe; und dieß iſt wiederum
ein Beweis, daß ihre Selbſtthaͤtigkeit nicht ſo ganz un-
vermoͤgend ſey, ſich zu zwingen und zu regieren. Viel-
mehr da ihre Leidenſchaften fuͤr ſich ſo wuͤtend ſind, ſo
koͤnnte man ſchließen, daß jene ziemlich groß ſeyn muͤſſe,
wenn ſie den aͤußern Ausbruch zuruͤckzuhalten vermag.
Aber ſie vermag dieß nur, wo ſie von einer noch ſtaͤr-
kern Leidenſchaft unterſtuͤtzet wird, wo z. B. Furcht und
Rachſucht ſie beſelet. Daher auch dieſes etwanige Ver-
moͤgen ſich zu regieren von der hoͤhern Selbſtmacht der
Seele uͤber ſich weit entfernt iſt. Es verſteht ſich, daß
dieß nicht ſo viel heiße, daß die Grundkraft der Tugend
ganz und gar bey ihnen unwirkſam ſey. Wenn man
erwaͤgt, wie viel Schwaͤche dieſe bey den kultivirteſten
Menſchen noch hat, ſo wird man wiederum den Abſtand
zwiſchen dieſen und jenen merklich vermindert finden.
Jm Ganzen aber die Vergleichung gemacht, hat der
kultivirte Menſch eine innere Welt fuͤr ſich, die weit ein-
geſchraͤnkter in dem Wilden iſt.

Wenn man dieß geſagte zuſammennimmt, ſo ſchei-
net es doch, es laſſe ſich daraus eine Folge ziehen, die
von großer Erheblichkeit iſt, naͤmlich: „daß der Grad
„der Entwickelung und Erhoͤhung in der Seele, |von
„der Geburt an bis ſo weit, als ſolche in |einem| der
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[681/0711] und Entwickelung des Menſchen. uͤber ſich und ihre Leidenſchaften gebieten kann, muß da fehlen, wo die Sinnlichkeit herrſchet und wo die Ver- nunft nur ſchwach iſt. Der rohe Menſch vergißt ſich ſelbſt bey jeder Anwandelung von Affekt. Jede Leiden- ſchaft ſteiget in ihnen auf, wie ein zuſammengehaltenes Feuer, weil es ihr an Gelegenheit fehlt ſich auszubreiten und zu ſchwaͤchen. Daher wiſſen ſie ſo wenig von der aͤußern Zuruͤckhaltung ihrer Begierden. Jndeſſen ſieht man doch aus vielen Beyſpielen, wie weit ihre Verſtel- lungskunſt und Falſchheit gehe; und dieß iſt wiederum ein Beweis, daß ihre Selbſtthaͤtigkeit nicht ſo ganz un- vermoͤgend ſey, ſich zu zwingen und zu regieren. Viel- mehr da ihre Leidenſchaften fuͤr ſich ſo wuͤtend ſind, ſo koͤnnte man ſchließen, daß jene ziemlich groß ſeyn muͤſſe, wenn ſie den aͤußern Ausbruch zuruͤckzuhalten vermag. Aber ſie vermag dieß nur, wo ſie von einer noch ſtaͤr- kern Leidenſchaft unterſtuͤtzet wird, wo z. B. Furcht und Rachſucht ſie beſelet. Daher auch dieſes etwanige Ver- moͤgen ſich zu regieren von der hoͤhern Selbſtmacht der Seele uͤber ſich weit entfernt iſt. Es verſteht ſich, daß dieß nicht ſo viel heiße, daß die Grundkraft der Tugend ganz und gar bey ihnen unwirkſam ſey. Wenn man erwaͤgt, wie viel Schwaͤche dieſe bey den kultivirteſten Menſchen noch hat, ſo wird man wiederum den Abſtand zwiſchen dieſen und jenen merklich vermindert finden. Jm Ganzen aber die Vergleichung gemacht, hat der kultivirte Menſch eine innere Welt fuͤr ſich, die weit ein- geſchraͤnkter in dem Wilden iſt. Wenn man dieß geſagte zuſammennimmt, ſo ſchei- net es doch, es laſſe ſich daraus eine Folge ziehen, die von großer Erheblichkeit iſt, naͤmlich: „daß der Grad „der Entwickelung und Erhoͤhung in der Seele, |von „der Geburt an bis ſo weit, als ſolche in |einem| der „niedrigſten aber ſonſt voͤllig aufgewachſenen Wilden „vorhanden iſt, gerechnet, einen groͤßern Fortgang |in „der U u 5

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 681. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/711>, abgerufen am 26.11.2024.