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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibiliät
"der Vervollkommnung der Menschheit ausmache, als
"derjenige ist, der noch übrig seyn würde, wenn die in-
"nere Vollkommenheit in dem Wilden von dieser Stu-
"fe an zu ihrer Stufe in dem besten Menschen ge-
"bracht werden sollte." Jch meine dieß ohne Beden-
ken behaupten zu können, ob es gleich auf Größen und
auf eine Schätzung dabey ankömmt. So viele Vor-
stellungen und Kraftäußerungen noch fehlen, ehe die
letzterwehnte Fortrückung beschaffet würde; und mags
auch seyn, daß sie bey den meisten Jndividuen in diesem
Leben nicht mehr möglich ist: so muß man doch auch ge-
stehen, daß dem neugebornen Kinde noch viel mehr feh-
let, ehe es zu einem Neuholländer werden kann. Wie
groß, wie lang, wie wichtig ist nicht dieser Schritt von
der Kindheit bis zum Mannsalter. Sollte dieser, wenn
er nicht schon in dem dreyßigsten Jahr des Lebens unter
der Anweisung der Natur vollendet wäre, wohl noch
einmal im Leben des Menschen vorgenommen werden
können? Wo es aber unmöglich ist bey einzelnen Jndi-
viduen, daß ein Wilder die Kultur noch annehme, da
hat solches zum Theil auch darinn seinen Grund, weil
ihm gewisse Eigenschaften an einer Seite genommen
werden müßten, die den neuen hinderlich sind, und die
nicht alle für Mängel und Unvollkommenheiten können
geachtet werden. Jede Form hat ihre Unvollkommen-
heiten. Jst der Charakter des Wilden nicht mehr ge-
schmeidig genug, um ein Europäer zu werden, so mag
es daran liegen, weil er starke Thätigkeiten an einer
Seite hat, die in Hinsicht auf die übrigen zu groß und
eben deßwegen nicht zu bezähmen sind.

Man ist also berechtiget, diesen Grundsatz anzuneh-
men: Die Ausbildung der Menschheit in allen
ihren unterschiedenen Formen, worinnen sie in
vollorganisirten und erwachsenen Jndividuen
sich zeigt, ist bis auf einen Grad hin allenthal-

ben

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibiliaͤt
„der Vervollkommnung der Menſchheit ausmache, als
„derjenige iſt, der noch uͤbrig ſeyn wuͤrde, wenn die in-
„nere Vollkommenheit in dem Wilden von dieſer Stu-
„fe an zu ihrer Stufe in dem beſten Menſchen ge-
„bracht werden ſollte.‟ Jch meine dieß ohne Beden-
ken behaupten zu koͤnnen, ob es gleich auf Groͤßen und
auf eine Schaͤtzung dabey ankoͤmmt. So viele Vor-
ſtellungen und Kraftaͤußerungen noch fehlen, ehe die
letzterwehnte Fortruͤckung beſchaffet wuͤrde; und mags
auch ſeyn, daß ſie bey den meiſten Jndividuen in dieſem
Leben nicht mehr moͤglich iſt: ſo muß man doch auch ge-
ſtehen, daß dem neugebornen Kinde noch viel mehr feh-
let, ehe es zu einem Neuhollaͤnder werden kann. Wie
groß, wie lang, wie wichtig iſt nicht dieſer Schritt von
der Kindheit bis zum Mannsalter. Sollte dieſer, wenn
er nicht ſchon in dem dreyßigſten Jahr des Lebens unter
der Anweiſung der Natur vollendet waͤre, wohl noch
einmal im Leben des Menſchen vorgenommen werden
koͤnnen? Wo es aber unmoͤglich iſt bey einzelnen Jndi-
viduen, daß ein Wilder die Kultur noch annehme, da
hat ſolches zum Theil auch darinn ſeinen Grund, weil
ihm gewiſſe Eigenſchaften an einer Seite genommen
werden muͤßten, die den neuen hinderlich ſind, und die
nicht alle fuͤr Maͤngel und Unvollkommenheiten koͤnnen
geachtet werden. Jede Form hat ihre Unvollkommen-
heiten. Jſt der Charakter des Wilden nicht mehr ge-
ſchmeidig genug, um ein Europaͤer zu werden, ſo mag
es daran liegen, weil er ſtarke Thaͤtigkeiten an einer
Seite hat, die in Hinſicht auf die uͤbrigen zu groß und
eben deßwegen nicht zu bezaͤhmen ſind.

Man iſt alſo berechtiget, dieſen Grundſatz anzuneh-
men: Die Ausbildung der Menſchheit in allen
ihren unterſchiedenen Formen, worinnen ſie in
vollorganiſirten und erwachſenen Jndividuen
ſich zeigt, iſt bis auf einen Grad hin allenthal-

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[682/0712] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibiliaͤt „der Vervollkommnung der Menſchheit ausmache, als „derjenige iſt, der noch uͤbrig ſeyn wuͤrde, wenn die in- „nere Vollkommenheit in dem Wilden von dieſer Stu- „fe an zu ihrer Stufe in dem beſten Menſchen ge- „bracht werden ſollte.‟ Jch meine dieß ohne Beden- ken behaupten zu koͤnnen, ob es gleich auf Groͤßen und auf eine Schaͤtzung dabey ankoͤmmt. So viele Vor- ſtellungen und Kraftaͤußerungen noch fehlen, ehe die letzterwehnte Fortruͤckung beſchaffet wuͤrde; und mags auch ſeyn, daß ſie bey den meiſten Jndividuen in dieſem Leben nicht mehr moͤglich iſt: ſo muß man doch auch ge- ſtehen, daß dem neugebornen Kinde noch viel mehr feh- let, ehe es zu einem Neuhollaͤnder werden kann. Wie groß, wie lang, wie wichtig iſt nicht dieſer Schritt von der Kindheit bis zum Mannsalter. Sollte dieſer, wenn er nicht ſchon in dem dreyßigſten Jahr des Lebens unter der Anweiſung der Natur vollendet waͤre, wohl noch einmal im Leben des Menſchen vorgenommen werden koͤnnen? Wo es aber unmoͤglich iſt bey einzelnen Jndi- viduen, daß ein Wilder die Kultur noch annehme, da hat ſolches zum Theil auch darinn ſeinen Grund, weil ihm gewiſſe Eigenſchaften an einer Seite genommen werden muͤßten, die den neuen hinderlich ſind, und die nicht alle fuͤr Maͤngel und Unvollkommenheiten koͤnnen geachtet werden. Jede Form hat ihre Unvollkommen- heiten. Jſt der Charakter des Wilden nicht mehr ge- ſchmeidig genug, um ein Europaͤer zu werden, ſo mag es daran liegen, weil er ſtarke Thaͤtigkeiten an einer Seite hat, die in Hinſicht auf die uͤbrigen zu groß und eben deßwegen nicht zu bezaͤhmen ſind. Man iſt alſo berechtiget, dieſen Grundſatz anzuneh- men: Die Ausbildung der Menſchheit in allen ihren unterſchiedenen Formen, worinnen ſie in vollorganiſirten und erwachſenen Jndividuen ſich zeigt, iſt bis auf einen Grad hin allenthal- ben

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 682. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/712>, abgerufen am 26.11.2024.