Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität zu können, ein feineres Seelenbedürfniß, das nicht allegleich stark und lebhaft fühlen, weil dieß Gefühl ent- wickelte Empfindsamkeit oder vorzügliche innere Selbst- thätigkeit voraussetzet. Es ist ohne Ausnahme bey al- len Menschen schwächer, als das Gefühl der thierischen Bedürfnisse. Bey den mehresten ist es auch nicht ein- mal so stark, als die Bedürfnisse der Sinnlichkeit und der Phantasie. Der starke Hang zur Unabhängigkeit, den man bey wilden Völkern antrifft, ist größtentheils nur eine Folge ihrer Trägheit und Unbiegsamkeit, und der daraus entstehenden Abneigung gegen jedes Unge- wohnte, was sie nöthiget sich etwas Gewalt anzuthun. Diese läßt sie jedwede Einschränkung, die eine Umän- derung in ihren Arten zu denken und zu handeln nach sich ziehet, als einen Verlust ihrer Freyheit ansehen. Es ist Widerwille gegen Arbeitsamkeit, Ordnung und zweckmäßige Ausbildung. Bey andern ist die vorgege- bene Freyheitsliebe mehr ein Hang sich Ansehen, Macht, Vergnügen und Vorzüge zu verschaffen. Bey vielen kom- men mehrere Ursachen zusammen. Es sind sehr wenige, die Freyheit und Unabhängigkeit aus wahrer Geistes- größe schätzen, weil sie ein Bedürfniß fühlen, wo sie ge- zwungen sind anders als selbstthätige Wesen, ohne oder wider eigene Einsicht zu handeln. Diese sind es auch nur, die der Freyheit ihren wahren Werth beylegen. Unbiegsa- me Wilde, die sie nicht entbehren können, entsagen ihr zwar auch nicht, ohne durch starke thierische Bedürfnisse dazu gezwungen zu seyn. Aber wo auch nur eine Noth sie dringet, oder eine stärkere Begierde sich des Herzens auf einen Augenblick bemächtiget, da geben sie sie leicht weg, oder setzen sie aufs Spiel, wie der alte Deutsche that. Ein großer Theil der Menschen möchte sie so wohlfeil, wie Esau seine Erstgeburt, verkaufen. Von den allermeisten läßt sie sich erhandeln, wenn nur Ver- gnügen, Ehre, Macht und Reichthum mehr oder we- niger
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt zu koͤnnen, ein feineres Seelenbeduͤrfniß, das nicht allegleich ſtark und lebhaft fuͤhlen, weil dieß Gefuͤhl ent- wickelte Empfindſamkeit oder vorzuͤgliche innere Selbſt- thaͤtigkeit vorausſetzet. Es iſt ohne Ausnahme bey al- len Menſchen ſchwaͤcher, als das Gefuͤhl der thieriſchen Beduͤrfniſſe. Bey den mehreſten iſt es auch nicht ein- mal ſo ſtark, als die Beduͤrfniſſe der Sinnlichkeit und der Phantaſie. Der ſtarke Hang zur Unabhaͤngigkeit, den man bey wilden Voͤlkern antrifft, iſt groͤßtentheils nur eine Folge ihrer Traͤgheit und Unbiegſamkeit, und der daraus entſtehenden Abneigung gegen jedes Unge- wohnte, was ſie noͤthiget ſich etwas Gewalt anzuthun. Dieſe laͤßt ſie jedwede Einſchraͤnkung, die eine Umaͤn- derung in ihren Arten zu denken und zu handeln nach ſich ziehet, als einen Verluſt ihrer Freyheit anſehen. Es iſt Widerwille gegen Arbeitſamkeit, Ordnung und zweckmaͤßige Ausbildung. Bey andern iſt die vorgege- bene Freyheitsliebe mehr ein Hang ſich Anſehen, Macht, Vergnuͤgen und Vorzuͤge zu verſchaffen. Bey vielen kom- men mehrere Urſachen zuſammen. Es ſind ſehr wenige, die Freyheit und Unabhaͤngigkeit aus wahrer Geiſtes- groͤße ſchaͤtzen, weil ſie ein Beduͤrfniß fuͤhlen, wo ſie ge- zwungen ſind anders als ſelbſtthaͤtige Weſen, ohne oder wider eigene Einſicht zu handeln. Dieſe ſind es auch nur, die der Freyheit ihren wahren Werth beylegen. Unbiegſa- me Wilde, die ſie nicht entbehren koͤnnen, entſagen ihr zwar auch nicht, ohne durch ſtarke thieriſche Beduͤrfniſſe dazu gezwungen zu ſeyn. Aber wo auch nur eine Noth ſie dringet, oder eine ſtaͤrkere Begierde ſich des Herzens auf einen Augenblick bemaͤchtiget, da geben ſie ſie leicht weg, oder ſetzen ſie aufs Spiel, wie der alte Deutſche that. Ein großer Theil der Menſchen moͤchte ſie ſo wohlfeil, wie Eſau ſeine Erſtgeburt, verkaufen. Von den allermeiſten laͤßt ſie ſich erhandeln, wenn nur Ver- gnuͤgen, Ehre, Macht und Reichthum mehr oder we- niger
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
zu koͤnnen, ein feineres Seelenbeduͤrfniß, das nicht alle
gleich ſtark und lebhaft fuͤhlen, weil dieß Gefuͤhl ent-
wickelte Empfindſamkeit oder vorzuͤgliche innere Selbſt-
thaͤtigkeit vorausſetzet. Es iſt ohne Ausnahme bey al-
len Menſchen ſchwaͤcher, als das Gefuͤhl der thieriſchen
Beduͤrfniſſe. Bey den mehreſten iſt es auch nicht ein-
mal ſo ſtark, als die Beduͤrfniſſe der Sinnlichkeit und
der Phantaſie. Der ſtarke Hang zur Unabhaͤngigkeit,
den man bey wilden Voͤlkern antrifft, iſt groͤßtentheils
nur eine Folge ihrer Traͤgheit und Unbiegſamkeit, und
der daraus entſtehenden Abneigung gegen jedes Unge-
wohnte, was ſie noͤthiget ſich etwas Gewalt anzuthun.
Dieſe laͤßt ſie jedwede Einſchraͤnkung, die eine Umaͤn-
derung in ihren Arten zu denken und zu handeln nach
ſich ziehet, als einen Verluſt ihrer Freyheit anſehen.
Es iſt Widerwille gegen Arbeitſamkeit, Ordnung und
zweckmaͤßige Ausbildung. Bey andern iſt die vorgege-
bene Freyheitsliebe mehr ein Hang ſich Anſehen, Macht,
Vergnuͤgen und Vorzuͤge zu verſchaffen. Bey vielen kom-
men mehrere Urſachen zuſammen. Es ſind ſehr wenige,
die Freyheit und Unabhaͤngigkeit aus wahrer Geiſtes-
groͤße ſchaͤtzen, weil ſie ein Beduͤrfniß fuͤhlen, wo ſie ge-
zwungen ſind anders als ſelbſtthaͤtige Weſen, ohne oder
wider eigene Einſicht zu handeln. Dieſe ſind es auch nur,
die der Freyheit ihren wahren Werth beylegen. Unbiegſa-
me Wilde, die ſie nicht entbehren koͤnnen, entſagen ihr
zwar auch nicht, ohne durch ſtarke thieriſche Beduͤrfniſſe
dazu gezwungen zu ſeyn. Aber wo auch nur eine Noth
ſie dringet, oder eine ſtaͤrkere Begierde ſich des Herzens
auf einen Augenblick bemaͤchtiget, da geben ſie ſie leicht
weg, oder ſetzen ſie aufs Spiel, wie der alte Deutſche
that. Ein großer Theil der Menſchen moͤchte ſie ſo
wohlfeil, wie Eſau ſeine Erſtgeburt, verkaufen. Von
den allermeiſten laͤßt ſie ſich erhandeln, wenn nur Ver-
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